Eine Einladung zum Zweifeln

Dieser Text entstand am 4. April. An diesem Wochenende zeigten sich die Brutalität des Kriegs und die damit einhergehenden Völker- und Menschenrechtsverletzungen ein weiteres Mal – diesmal in Butscha. Doch wie können wir darauf reagieren? «Mit Rache? Mit mehr Waffen? Oder mit Ignoranz? Wir stecken in einem fürchterlichen Dilemma»1, stellte auch Kathrin Gerlof in einem Beitrag in der Zeitung Freitag fest und sprach mir damit aus dem Herzen.

Es gibt keinen Zweifel an der Brutalität dieses russischen Angriffs­krieges, keinen Zweifel am Leid der Menschen in der Ukraine, auch nicht an der Gewalt gegen Kriegs­gegner*innen in Russ­land und dem Leid der Mütter getöteter Soldaten. Auch die Entschlossenheit der Ukrainer*innen, ihre Heimat zu verteidigen, lässt sich nicht in Zweifel ziehen.

Meine Einladung zum Zweifeln beginnt mit der Geschichte vieler Kriege. Der Deutsche Sozialdemokrat Egon Bahr sagte 2013 zu einer Schulklasse: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Dieses Bild internationaler Politik zeigt auch die Erfahrung aus vergangenen Kriegen. So wurde der Irakkrieg mit nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen begründet und für den  Afghanistan-Einsatz, dessen schreck­lichen Verlauf wir nun kennen, wurde damit argumentiert, den Krieg gegen den Terror führen zu müssen sowie Frauenrechte und Demokratie nach Afghanistan zu bringen. Genauso gelogen ist nun Putins offizielle Kriegsbegründung, die Ukraine entnazi­fizieren zu wollen. Seine Sprachregelung zielt mit dem Begriff «Spezialoperation» darauf, Zustimmung zu seinem Krieg zu erhalten. Das Wort «Operation» lässt das Bild eines gezielten, chirurgisch präzisen und notwendigen Eingriffs entstehen. Es ent­spricht seinem Narrativ, doch das Gegenteil ist der Fall. Schlachtfelder sind die Städte, das Zuhause vieler Menschen.

Ich möchte den Blick nun aber weg vom Offensichtlichen nehmen und dazu einladen die herrschenden politischen Diskurse im deutschsprachigen Raum zu hinterfragen. Sie machen mir Angst. Fast täglich entsteht bei mir der Eindruck, dass der politische Wille zu einer militärischen Intervention europäischer Staaten wächst.

Die Deutsche Aussenministerin, die den Begriff der wertebasierten und auch feministischen  Aussenpolitik ins Zentrum rückte, erklärte in ihrer Rede zur nationalen Sicherheitsstrategie am 18. März 2022: «Dabei müssen wir Sicherheit nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft heraus denken.»2 Dieser viel zitierte Satz lädt uns zu Hoffnung ein, verlangt aber auch, dass wir die Geschichte, das Gewordensein der Staaten, der Bündnisse und vergangener Kriege ignorieren. Der deutsche Bundes­kanzler Olaf Scholz3 sowie unsere Bundes­rätinnen Karin Keller-Suter4 und Viola Amherd5 stimmen in diese Geschichts­vergessenheit ein und bezeichneten Ende Februar und Anfang März den Ukraine Krieg als ersten Krieg in Europa seit dem zweiten Weltkrieg und blendeten damit den Balkan­krieg und den «Zypernkonflikt» aus der Europäischen Geschichte aus.

Die Geschichte zu vergessen, auch die Geschichte der europäischen Waffenexporte, bereitet mir Sorgen. Deutsche Leopardpanzer werden von der Türkei eingesetzt, Schweizer Scharfschützengewehre und Granatwerfer in der Ukraine und Maschinenpistolen in Russland. Sollten wir, wenn wir nationale und internationale Sicherheit diskutieren, nicht auch darüber sprechen, wo unsere Waffen­exporte überall Unheil anrichten?

Stattdessen rückt ein brachialer Auf­rüstungs­diskurs ins Zentrum. Während Deutschland nun Rüstung ins Grundgesetz schreiben und sich 35 Kampfjets, die zur atomaren Bewaffnung taugen, anschaffen will, wird in der Schweiz dem Initiativkomitee gegen die F35 Kampfjets der Rückzug der Initiative nahe gelegt. Der Konsens zum Ausstieg aus der Atomkraft wird mit dem Hinweis auf die Energiesicherheit infrage gestellt. Das enorm umweltschädlich produzierte Fracking-Gas heisst neu Flüssiggas und ist plötzlich heiss begehrt. Die dringend nötige Klimawende oder die Stärkung unserer Gesundheits­systeme sind schon fast Geschichte, obwohl beides zur Sicherheit des Lebens notwendig ist. Findet hier eine politische Diskursverschiebung statt, die die sozialen und ökologischen Kämpfe der letzten Jahre verdrängt?

Historiker*innen und Philosoph*innen sind nicht mehr gefragt. Die Aufforderung, die Geschichte hinter sich zu lassen, wirft uns auf unsere Emotionalität zurück. Und dazu gehört nicht nur das Mitgefühl mit den Opfern des Krieges, sondern auch die Sehnsucht nach Rache. Oder die Hoffnung, dass entgegen aller Erfahrung Waffen­lieferungen diesmal vielleicht doch zu einem schnellen Ende dieses grossen Leidens führen könnten, wenn es denn nur genug wären. Die Geschichte lehrt uns Gegen­teiliges, und unsere Erfahrungen «über die Wirksamkeit militärischer Lösungen im Fall bereits eskalierter Konflikte helfen nicht viel. Mehr noch, sie stören unsere ersten Impulse, vergrössern möglicherweise unsere Verzweif­lung und zwingen uns vielleicht, zuzugeben, dass wir gerade nicht weiterwissen», schreibt Kathrin Gerlof. Unsere Erfahrungen und unsere Gefühle im Anblick dieses Krieges geraten in Widerspruch zueinander. Diesen Widerspruch zu glätten und eine Seite in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen, erscheint mir falsch.

Das Unbehagen mit dem Nationalismus

Jeder Krieg stärkt den Nationalismus. Dagegen schrieb Rosa Luxemburg 1918 in ihrem «Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution» an. Die historische Situation war eine vollkommen andere, aber einige Fragen stellen sich erneut. «Der Nationalismus schillert in allen Farben», schreibt sie und mahnt, dass die Arbeitenden die Zeche für die Kriege der Herrschenden zahlen und ebenso für einen nationalistischen Burgfrieden. Dieser Teil ist aktuell. Der Krieg, aber auch die Sanktionen treiben die Preise für Benzin, fossile Heizstoffe, Weizen und Speiseöle nach oben. Für viele Basler*innen wird das Problem bewältigbar bleiben. Unter anderen Umständen könnte die fossile Energiekrise auch zu einer schnelleren ökologischen Wende beitragen, aber für Armutsbetroffene in Russland, dem Jemen oder Nordafrika wird die Preis­explosion der Grundnahrungsmittel zur existenziellen Gefahr.

Im Angesicht der herrschenden Ohnmacht fällt es mir schwer, gegen Sanktionen anzuschreiben. Ökonomische Sanktionen sind ein zäher Weg, Partei zu ergreifen, ohne physisch in den Krieg einzugreifen und das aktive Töten zu unterstützen. Wir wissen, dass mit Öl- und Gasimporten aus Russland täglich neue Panzer und Raketen finanziert werden und gerade Sanktionen, die gezielt die Verursacher und Profiteure treffen, wären wünschenswert. Aber so, wie wir sie in ihrer Gesamtheit vorfinden, treffen sie zugleich auch Armutsbetroffene und all jene, die Rosa Luxemburg als internationales Proletariat begreift. Dessen müssen wir uns in aller Verzweiflung und Ohnmacht gegenüber denen, deren Leid wir täglich sehen, bewusst sein. Eine Perspektive, die in Staaten und Staatenverbünden denkt und nicht in globalen Klassenverhältnissen wird dieses Problem nicht lösen können.

Das bei uns vorherrschende Narrativ suggeriert zudem, dass es bei diesem Krieg ausschliesslich um die Verteidigung der liberalen westlichen Demokratien gegen totalitäre russische Grossmachtsansprüche gehe. Dieses Narrativ ignoriert allerdings “die viel größere Gruppe von Ländern in Lateinamerika, im Nahen Osten, in Afrika und in Südostasien, die uns genau beobachten”6, schreibt Slavoi Zizek und mahnt uns, den Menschen in diesen Ländern die Chance auf Teilhabe zu geben. Eine zukunftsfähige “Verteidigungsstrategie” hiesse “andere Länder davon zu überzeugen, dass der Westen ihnen bessere Möglichkeiten anbieten kann als Russland oder China. Und der einzige Weg, dies zu erreichen, besteht darin, uns selbst zu ändern, indem wir den Neokolonialismus, auch wenn er sich als humanitäre Hilfe verkleidet, unbarmherzig ausrotten.” Dazu gehört auch die aktuelle Flüchtlingspolitik in Europa in den Blick zu nehmen.

«Die Ukrainer sind fast wie wir»

Der schillernde Nationalismus bedient unsere Emotionen und die rassistisch codierte Hierarchisierung des Lebens wird in dieser Krise greifbar. Nicht nur, dass nach wie vor Menschen an der belarussisch-polnischen Grenze festsitzen, während für Ukrainerinnen sichere Fluchtrouten geschaffen werden, auch die Aufnahme in den Ankunftsländern verläuft verschieden.
Es ist richtig, Menschen die notwendige Unterstützung zu geben, die sie nach einer Flucht brauchen. Die Schaffung sicherer Fluchtrouten, Reisefreiheit, Familien­nach­zug, Unterbringung und die Möglichkeit zu arbeiten sind wichtige Schritte hin zu einem menschenwürdigen Asylsystem. Genau das brauchen auch Geflüchtete aus Syrien und anderen Gebieten, in denen das Leben unerträglich wurde. Sie müssen jedoch in den Lagern bleiben, sich an Ausgangssperren halten, haben keine Bewegungs- und Reisefreiheit, lange Wartezeiten bis sie erfahren, ob sie ihr Leben hier wirklich beginnen können. Insofern gilt es, das, was für die Ukrainer*innen möglich wurde, für alle Geflüchteten zu erstreiten.

Zugleich ist der Diskurs, der wenigstens für einen Teil der Asylsuchenden eine menschen­würdige Aufnahme möglich machte, mehrfach rassistisch und natio­nalistisch codiert. Der Rassismus, den Asylsuchende aus dem globalen Süden erleben, ist offensichtlich, aber wir dürfen nicht übersehen, dass auch die richtige und wichtige Unterstützung geflüch­teter Ukrai­ner*innen unter dem Vorbehalt möglich wurde, dass diese Menschen «fast so wie wir» seien. Ihre Not wird breit anerkannt und trotzdem zeigt sich im medialen Diskurs eine subtile Distanziertheit, statt Solidarität auf Augenhöhe.

«Unglücklich das Land, das Helden nötig hat»7

Blicken wir zurück auf die Unterstützung der Flüchtlingshilfe 2015, sehen wir, dass die Diskussionen andere waren. Die Flücht­lingshilfe war damals systemkritisch, weil sie erbrachte, was die Nationalstaaten zu leisten nicht bereit waren. Heute ist die Situation eine andere. Die medialen Erzählungen zeigen zwei Arten von Helden: Einerseits die ukrainischen kämpfenden Helden, die für unser aller Freiheit kämpfen. Andererseits die Held*innen, die in den Ankunftsländern die notwendige Unter­stützung und Koordinierung leisten, zu der es den Nationalstaaten diesmal weniger an Willen aber durchaus an Kompetenz und Ressourcen fehlt. Auch an der Heimatfront sind nun ganz viele Helden, die Opfer erbringen, um das Notwendige zu tun. Aber tragen diese medialen Helden­ge­schichten nicht auch zu einer zivilen Mobil­machung und Stärkung der Kriegsbereitschaft in den Demokratien des Westens bei? Und ist diese zivile Unterstützung nicht zugleich notwendig und richtig, weil sie reales Leid der Geflüchteten mildert. Sie ist der Ort, an dem wir ganz real Verantwortung gegen huma­nitäre Missstände übernehmen können. Ich hadere mit (allen) Heldengeschichten, weil all die kleinen Helden die Opfer bringen, die die grossen Helden in prächtigem Glanz erscheinen lassen.

All diese Zweifel an den herrschenden Diskursen entlassen uns jedoch nicht aus der Verantwortung.

Franziska Stier, Parteisekretärin BastA!

1 www.freitag.de/autoren/kathrin-gerlof/wie-sollen-wir-auf-die-graeueltaten-von-butscha-reagieren
2 www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-nationale-sicherheitsstrategie/2517738
3 www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/10-vor-10-vom-03-03-2022
4 www.srf.ch/news/international/krieg-in-der-ukraine-amherd-vielleicht-hat-man-sich-bis-jetzt-zu-sicher-gefuehlt
5 www.tagesanzeiger.ch/waffen-aus-thun-sind-in-den-haenden-beider-kriegsparteien-676937032617
www.project-syndicate.org/commentary/europe-unequal-treatment-of-refugees-exposed-by-ukraine-by-slavoj-zizek-2022-03/german
7  B. Brecht, «Das Leben des Galilei» 13. Szene