Der Hunger ist nur der Anfang
Die Zahlen sind erschreckend. Es ist nicht überraschend, dass David Beasley, Direktor der UN-Welthungerhilfe sagt: „This will be hell on earth“. 276 Millionen Menschen in 81 Ländern erleben bereits die Hungerkrise. 44 Millionen sind ein nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse von der Ukraine und Russland machen etwa 12 Prozent aller „calories the world trades“ aus; mehr als 30 Prozent des Welthandels mit Weizen, 32 Prozent mit Gerste, 17 Prozent mit Mais und mehr als 50 Prozent mit Sonnenblumenöl, -Samen und –Mehl entfallen auf Russland und die Ukraine. Der meiste ukrainische Weizen der letzten Ernte wurde bereits exportiert, 30 Prozent liegt aber noch in der Ukraine. Die nächste Haupterntesaison kommt im Sommer. Derzeit wäre eigentlich die Saatzeit gewesen (Anfang März bis Ende April). Die ersten Prognosen sind verheerend. Es wird damit gerechnet, dass das weltweite Angebot 10 bis 50 Prozent bei wichtigen Agrarprodukten, wie Weizen, Gerste, Mais, Raps- und Sonnenblumenöl zurückgehen wird.
Besonders betroffen sind jene Länder, die in den letzten Jahren stark durch unterschiedliche (geo)politische und global ökonomische Dynamiken geschwächt waren. Das Kriegsland Jemen zum Beispiel bezieht mehr als ein Drittel seines Weizens aus Russland und der Ukraine. Die Länder der letzten Aufstände: Ägypten, Irak, Algerien, Tunesien, Libanon, die bereits von Dürre und Inflation betroffen sind, beziehen zwischen 60 und 85 Prozent ihres Weizens aus der Ukraine und Russland. Außerdem sind die afrikanischen Länder Ghana, Nigeria, Kenia und Somalia große Weizenimporteure aus der Region. Als Ölimporteur wird Kenia hart von den Sanktionen getroffen werden, vor allem wegen des überbewerteten Schillings und dem zu erwarteten Handelsdefizit. Es wird erwartet, dass Kenia verspätet Subventionen einstellt, die die Benzinpreise künstlich stabil halten. Dies könnte zur Verdrängung von Ausgaben in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Infrastruktur führen.
Der Hunger ist nur der Anfang. Dies hat zwei Gründe. Erstens, kommt der Hunger selten alleine. Oft wird Hunger mit Gewalt (besonders gegen Frauen und Minoritäten), neue Schuldenkreisläufe, Binnenflucht, Schwächung der Infrastruktur sowie besondere Gefahren für Kinder, begleitet. Zweitens, sind die globalen Strukturen, die dieses Ausmaß an Abhängigkeit erlaubt haben, noch bestehend. Es ist kein Zufall, dass der Revolutionsruf in Ägypten „Brot, Freiheit, Würde“ war. Brot kam zuerst, denn da geht es um die globalen Strukturen, die aus der Grundversorgung Modelle für Profit gemacht haben. Oder wie die Sudanischen Proteste gerade rufen: „Crops not cotton“. Denn während Baumwollte eines der klassischen Exportmaterialien der Region ist und in den globalen Handelsschaltkreise gut fließen kann, steht er stellvertretend für die Ausbeutung des Sudans. Ähnlich ist es nicht nur mit der Baumwolle in Ägypten, sondern auch mit den Erdbeeren. Aber, wie der ägyptische Soziologe Sakr ElNour schrieb „Aus Erdbeeren wird kein Brot gebacken“.
Radwa Khaled-Ibrahim, Referentin für kritische (Not)Hilfe bei Medico International