Wahlbeobachtung in der Türkei

Am 18. März verschickte das Co-Präsidium der HDP einen internationalen Aufruf zur Wahlbeobachtung am 14. Juni in der Türkei. Im Auftrag der Grünen Schweiz nahmen wir gemeinsam mit Vertreter*innen des jgbs an einer Delegation teil und besuchten Wahllokale in Van und Umgebung. Unsere Eindrücke und Erlebnisse haben wir einem ausführlichen Bericht festgehalten.

Foto: jin news

Der ausführliche Bericht mit Fotos ist hier als PDF zum Download bereit.

Teil 1: Sonntag, 14. Mai 2023

Laurin Hoppler & Philippe Kramer

Um das Dorf Erçek herum, haben wir vier Schulen besucht und folgendes beobachtet:

  1. Vor allem in der ersten Schule waren die Couverts teilweise nicht oder schlecht verschlossen. Ähnliche Beobachtungen haben wir in anderen Schulen gemacht, wo es aber deutlich seltener auftrat.
  2. In der zweiten Schule war im ersten besuchten Wahlzimmer eine leere und nicht versiegelte Plastikurne an der Wand des Zimmers zu sehen.
  3. Die Wahllokale wirken neutral gestaltet, es ist keine Wahlwerbung sichtbar.
  4. In allen vier Wahllokalen und in deren Wahlzimmern, war keine Überwachung zu beobachten. Die Aussenbereiche von zwei Schulen waren von Videokameras überwacht. Unserer Wahrnehmung nach, waren diese aber Teil des alltäglichen Sicherheitskonzepts.
  5. Auf dem Gelände jeder Schule waren zwischen vier und acht Angehörige des Militärs präsent. Die Schulen haben sie nie betreten und versperrten auch nicht den Weg in die Wahllokale. Sie waren sichtbar bewaffnet, aber nicht angespannt. In nur einem Fall verwendeten sie ein klar erkennbares Militärfahrzeug, ansonsten nutzten sie weisse Geländefahrzeuge.
  6. Auffallend war für uns, dass die Militärs nicht mit dem Rücken zum Wahllokal standen, um die Schule zu bewachen, sondern dem Wahllokal frontal gegenüberstanden. Bei uns entstand dadurch eher das Gefühl, dass man Militärpräsenz haben möchte und die Militärs weniger wegen der Sicherheit des Wahllokals präsent waren.
  7. In den Wahlzimmern sassen immer viele Leute, aber der Bereich in dem die Wahlkabine steht war immer subtil abgegrenzt, so dass sich dort in der Nähe keine anderen Leute aufhielten. Nur ein Wahlzimmer war so klein, so dass diese Abgrenzung nicht möglich war.
  8. Die Wahlkabine war immer von einem Vorhang umgeben und unserer Beobachtung nach, konnten die Wähler*innen wählen, ohne dass sichtbar wurde, für wen sie ihre Stimme abgegeben haben.
  9. In den Wahllokalen sahen wir viele Frauen mit Kindern und ältere Menschen. Gebrechliche Menschen wurden teilweise begleitet und gestützt, doch unserer Beobachtung nach kam es dabei zu keinem Zwang oder Übergriff.
  10. Der Zutritt zu den Wahllokalen verlief problemlos. In der zweiten Schule konnten wir das Obergeschoss nicht beobachten – uns ist aber auch unklar, ob dort tatsächlich auch Wahlzimmer waren. Jedoch sahen wir an der Treppe zum oberen Stock die identischen Hinweisschilder mit Nummern zu den Wahlzimmern wie im unteren Stock und in den anderen Wahllokalen.
  11. Im Gespräch sagten die Menschen in den Wahllokalen, es habe keine Probleme gegeben. Der Leiter einer Schule befürchtete, dass es dann bei der Auszählung der Urne zu Schwierigkeiten kommen könnte. Die Vertreter*innen der verschiedenen Parteien, empfingen uns freundlich und fühlten sich nicht gestört von unserer Präsenz.

Franziska Stier

Unsere Delegation setzte sich aus vier Personen zusammen und wurde zudem von einer Journalistin von Jin News begleitet. Es nahmen auch eine Kandidatin der Yeşil Sol Parti und der Abgeordnete Bahattin Karaman der HDP teil.

Wir waren im Wahlbezirk İpekyolu. Dieser hat ungefähr 350.000 Einwohner*innen. Unsere Gruppe besuchte dabei die ländlichen Wahllokale östlich von Van. Gegen 12 Uhr erreichten wir das erste Wahllokal in Siyavan/Ortanca. Mir wurde gesagt, dass hier etwa 350 Menschen wahlberechtigt sind und zum Zeitpunkt des Besuchs etwa 120 Menschen gewählt haben.

Anschliessend besuchten wir die Wahllokale Gövelek/Irmanıs, Köşebaşı/Farix und drei weitere kleine Wahllokale. Mehrheitlich lag die Zahl der Wahlberechtigten unter 1000.

Gegen 15:00 Uhr beendeten wir den Einsatz und kehrten zurück nach Van.

  • Die Wahlurnen waren stets versiegelt, teilweise wirkten die Wahlcouverts in der Wahlurne nicht verklebt.
  • Die Wahlkabine war durch einen Vorhang gekennzeichnet und überall so ausgerichtet, dass geheim gewählt werden konnte.
  • Die aufliegenden Stimmzettel waren gestempelt. Ausserhalb der Wahllokale war jeweils Militär stationiert. Auf Nachfrage wurde mir versichert, dass die vorhandene Militärpräsenz dem Schutz der Wahllokale dient und kein einschüchterndes Ausmass hat.
  • In einem Schulhaus kam es auf dem Gang zu einem lauten Wortgefecht, das sich jedoch schnell beruhigte.
  • Die Flure der Schulhäuser waren in der Regel voll mit Menschen, die darauf warteten, ihre Stimme abzugeben – darunter sehr viele Frauen mit ihren Kindern.

Die Beobachtungsdelegation wurde überall von der Wahlkommission empfangen und konnte die Wahllokale inspizieren. Auffällig war, dass die Wahlkommissionen – mit einer Ausnahme – durchgehend männlich besetzt waren.

In keinem der Wahllokale konnten wir zum Zeitpunkt unserer Beobachtung Unstimmigkeiten feststellen.

 

Tural Aytac & Ruth Waldvogel

Wir wurden vom Yeşil Sol-Kandidaten Sinan, dem Yeşil Sol-Co-Vorsitzenden Van und der HDP-Co-Vorsitzenden begleitet.

Im Wahlkreis 1 haben wir 8 Wahllokale in Schulen besucht. Die Stimmung unter den Wähler*innen war sehr gut. Bis ca. 14 Uhr war der Andrang gross, danach nahm die Wahlbeteiligung ab. Die Mitglieder der Wahlaufsicht nannten keine Probleme oder besondere Vorkommnisse bis auf kleine technische Zwischenfälle. In einem Fall mussten sich die konkurrierenden Parteien am Morgen über den Ablauf einigen, danach gab es keine Probleme mehr.

Bei jedem Wahllokal standen gepanzerte Fahrzeuge manchmal im Vordergrund, manchmal waren sie eher diskret parkiert. Sicherheitsleute blieben manchmal an den ihnen zugewiesenen Tischen und waren auch sonst eher zurückhaltend, andere stellten sich gut sichtbar vor den Lokalen auf.

Am Nachmittag wurden wir Ausländer*innen zweimal angehalten, um zu prüfen, ob unsere Namen auf einer Liste aufgeführt waren. Wir mussten keine Ausweise zeigen und wurden zur Beobachtung zugelassen. Leider konnten wir aus Zeitgründen nicht alle der uns zugewiesenen Schulen besuchen.

In einem Wahllokal konnten wir die Stimmzettel inkl. Rückseite mit Stempel sowie die Urne, die Namenslisten und das Lokal fotografieren (s. Beilagen)

Fina Girard & Anne-Lise Hilty

Wir werden von Akif Coşkun, unserem Fahrer und Übersetzer, begleitet. Später stösst Gülistan, Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation zu uns.

Wir besuchen insgesamt 3 Schulen, die Stimmung ist im Allgemeinen ruhig. Wie alle Begleiter*innen ging Akif bereits am Morgen früh wählen – noch vor den Beobachtungen. Er erzählt uns, dass er 2 Stunden warten musste. (Damit sind die Stimmen der Begleiter*innen gesichert, was immer nachher geschehen mag). Im Gegensatz zu andern Gruppen unserer Delegation sahen wir keine Polizei- oder Militärfahrzeuge.

1. Schule: Fatih Sultan Mehmet ilkokulu – ortaokulu

Bei der ersten Schule warten sehr viele Leute darauf wählen zu können: In den Gängen herrscht Gedränge. Eine Frau im schwarzen Niqab rempelt A. an und geht einfach weiter. Ist es Zufall oder Absicht, weil eine Ausländerin die Wahlen beobachtet? Akif meint, es sei eher Zufall.

Rund 20 Schulzimmer stehen als Wahllokale zur Verfügung. Wir können zwei Schulzimmer betreten und werden von der Wahlaufsicht, Vertreter*innen der grossen Parteien, freundlich begrüsst und können Fragen stellen. Laut dem Präsidenten verlief bisher alles ruhig. In jedem Zimmer stehen 2 Wahlkabinen. Alles scheint den Vorgaben zu entsprechen. Im zweiten Wahllokal sieht das Siegel an der Wahlurne wenig vertrauenswürdig aus: Wir sprechen die Verantwortlichen darauf an, anscheinend haben sie Schwierigkeiten beim Anbringen gehabt. Sie zeigen uns das ursprüngliche Siegel, welches auf der Fensterbank liegt.

Beim Verlassen des Gebäudes will ein Polizist in Zivil unsere Namen wissen. Akif weigert sich, ihm diese zu nennen mit dem Hinweis, Wahlbeobachtungen von Ausländer*innen seien erlaubt. Wir verlassen daraufhin die Schule. Eine Wählerin bedankt sich vor der Schule bei uns.

2. Schule: Selahaddin Eyyubi bist Anadolu lisesi  

Vor dem Gebäude möchte ein Journalist eines irakisch-kurdischen Senders möchte ein Interview mit uns machen. Wir zögern und lehnen schliesslich ab. Später stellt sich heraus, dass er für ein DPK-freundliches Medium arbeitet. (Die Demokratische Partei Kurdistans im Irak von Masud Barzani unterhält gute Beziehungen zur türkischen Regierung und hat hier auch einen Ableger.) Wir können ohne Probleme das Schulhaus sowie ein Schulzimmer besuchen. In den Fluren sind mehrere Polizist*innen, zum Teil in Zivil mit Funkgerät, zum Teil mit Westen. Einer der Polizisten verschwindet in einem Lehrerzimmer.

Wir lassen uns vom Präsidenten den Ablauf einer regulären Wahl erklären. Die Siegel sehen wieder etwas fragwürdig aus, nur ein dünner Bindfaden mit etwas Siegellack und ohne Siegelprägung (also leicht reproduzierbar). Er zeigt uns den Siegellack und erklärt den Versiegelungsprozess – das sei normal so. Für jede Wahl werde gebe es eine eigene Farbe. Im Hof begrüsst uns ein älterer Mann auf Kurdisch, freut sich über unsere Anwesenheit und bittet uns, ihre Stimmen zu schützen.

3. Schule İskele İmam Hatip ortaokulu

In der Eingangshalle will eine Polizistin (nur mit Weste als Polizei gekennzeichnet) in Begleitung mehrerer ihrer Kollegen unsere Begleitschreiben sehen (Auftrag der Grünen Partei Schweiz). Sie fotografiert sie, sendet die Fotos in einen Gruppenchat und telefoniert. Fina sei nicht auf einer polizeilichen Liste und wir dürften höchstens in die Korridore. Unsere Begleitpersonen diskutieren mit ihnen, wir erhalten keine Übersetzung. Wir warten vor dem Gebäude. Akif verhandelt weiter und ruft einen Anwalt. „Wenn wir hier nicht reinkommen, werden sie uns auch sonst überall zurückweisen.“ Rund 10 jüngere Männer ohne Uniform kommen über den Hof gelaufen. Akif hält sie für normale Wähler, aber unsere Begleiterin Gülistan, Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation, erkennt in der Gruppe Mitglieder des özel teams (Spezialteams), die sie vor einem Jahr festgenommen haben. Sie war damals 7 Monate im Gefängnis als Vorsitzende von MEYAD derneği. Während die Polizisten mit dem inzwischen eingetroffenen Anwalt verhandeln, werden wir von den Männern des özel teams beobachtet. Schliesslich sagt der Anwalt, Wahlbeobachtungen wie die unsere seien grundsätzlich gesetzmässig, die Polizei könne sie aber jederzeit verbieten. Wir dürfen die Schule nicht betreten. Rasch verlassen wir das Schulgelände, während wir eng beobachtet werden.

4. Wahlablauf

Im 2. Wahllokal erklären uns die Vertreter*innen der Wahlaufsicht den korrekten Ablauf der Wahl. Die Wähler*innen erhalten ein Schreiben, das sie zur Wahl berechtigt (s. Foto). Darauf sind ihr Name, das Wahllokal und die Zimmernummer, wo sie wählen müssen, eingetragen. Dort wird zuerst auf einer Liste kontrolliert, ob der Name eingetragen ist. Dazu müssen sie ihren Ausweis vorlegen. Dann erhalten sie die von der lokalen Wahlkommission abgestempelten und damit gültig erklärten Unterlagen für die Präsidentschafts- sowie die Parlamentswahlen und ein grünes Couvert zusammen mit einem Ja-Stempel. Damit begeben sie sich die abgeschirmte Wahlkabine und stempeln Ja zum Namen des von ihnen gewählten Präsidenten bzw. der von ihnen bevorzugten Partei. Die

Wahlunterlagen versorgen sie im grünen Umschlag, den sie in die versiegelte Wahlurne werfen.

 

Teil 2: Gespräche und Beobachtungen ausserhalb des Wahlsonntags

In die Auswertung der Wahlbeobachtung sollten auch Berichte und Beobachtungen einfliessen, die vor und nach den Wahlen stattfinden. Aus diesem Grund besuchten wir verschiedene Institutionen und Menschenrechtsorganisationen, um uns über die aktuelle Situation zu informieren und halten fest, was wir ausserhalb der Beobachtungen in den Wahllokalen erlebt haben.

 

Freitag, 12.5.23

Wir konnten alle Kontrollen ohne Probleme passieren. Auf dem Flughafen Van wirkte alles ruhig. Lediglich 3 Soldaten sassen aus Ausgang gelangweilt herum. Necdet, Zeki und Akif holten uns am Flughafen ab, brachten uns ins Hotel und erklärten uns die Pläne für den nächsten Tag.
Der Empfang war sehr herzlich.

Menschenrechtsverein IHD (İnsan Hakları Derneği)

Die Co-Vorsitzende betont, dass das Wahlrecht ein Menschenrecht sei. Die bevorstehende Wahl sei bestimmend und möglicherweise die letzte Wahl für Frauen. Wenn Erdogan gewinnt, könnten die Rechte der Frauen auf massiven Druck der rechten Koalitionspartner der AKP von Erdogan beträchtlich eingeschränkt werden. Für den IHD ist wichtig, dass alle Frauen wählen können, wen sie wollen.
Vor den Wahlen gab es viele Verhaftungen. Den Anwält*innen, die die Inhaftierten verteidigen wollten, wurde mitgeteilt, die Dossiers seien geheim. Der Staat befolgt seine eigenen Gesetze nicht. Für die Wahlen befürchtet der IHD weitere Einschüchterungen durch das Militär.

Juristenverband für Freiheit ÖHD (Özgürlük icin Hukukçular Derneği)

Die Co-Präsidentin und der Co-Präsident des ÖHD berichten über ihre Tätigkeiten. Auch sie befürchten Einschüchterung und Druck auf die freie, anonyme Wahl. Der Verein stellt 160 Anwält*innen für die Wahlbeobachtung zur Verfügung.

Beispiele aus der Tätigkeit des ÖHD

  • für bessere Haftbedingungen:
    war die Isolationshaft früher die Ausnahme, werden nun immer mehr sogenannte Hochsicherheitsgefängnisse des Typs S und Y[1] mit viel kleineren Zellen gebaut, praktisch nur noch Einzelzellen. Die Isolationshaft wird zum Standard. Inhaftierte dürfen pro Woche 10 Min. mit ihrer Familie telefonieren. Sie erhalten pro Tag 45 Min. Aufenthalt im Hof, wobei die, die sich kennen, möglichst voneinander isoliert werden. Die medizinische Versorgung ist vollkommen ungenügend. Im vergangenen Jahr starben deswegen 45 Inhaftierte.
  • für Flüchtlinge aus dem Iran und Afghanistan:
    Diese werden häufig an der Grenze abgefangen und zurückgeschickt und landen damit in den Händen ihrer Verfolger*innen. In einem Fall haben die türkischen Militärs eine Frau von ihrer Gruppe getrennt und vergewaltigt.
  • für Frauenrechte und gegen Femizide: Der Fall von Fatma illustriert die weitverbreitete Unterdrückung der Frauen bzw. der Kurdinnen. Sie ging zur Polizei, um gegen ihren gewalttätigen Mann zu klagen. Weil sie nur Kurdisch sprach, wurde sie wieder nach Hause geschickt und von ihrem Mann umgebracht.

Der ÖHD dokumentiert die Fälle in allen Bereichen und bringt sie an die Öffentlichkeit, um Druck aufzubauen und längerfristig ähnliche Vergehen zu verhindern. Doch der Kampf gegen die Unterdrückung sei lang. Die Co-Präsidentin hält zudem fest: «Für uns gibt es nur einen Weg zur Lösung dieser Krisen – den demokratischen.»

Anwaltskammer Van (Van Barosu)

Es sei in der ganzen Türkei die Verantwortung der Anwaltskammern, die Wahlen zu beobachten und zu begleiten, erklärt der Vorsitzende der Anwaltskammer von Van, Sinan Özaraz. Zwei Tage vor den Wahlen (12.5.23) verabschiedete die Hohe Wahlkommission jedoch einen Beschluss, der besagt, dass die Anwält*innen dazu nicht berechtigt seien. Das wurde lediglich durch die Presse bekannt, ohne amtliche Schreiben. Die Auswirkungen des Beschlusses sind unklar. Die Anwaltskammer beruft sich auf das Gesetz, wonach Anwält*innen Menschen verteidigen, deren Rechte eingeschränkt werden. Bisher hatte die Anwaltskammer einen guten Kontakt zur lokalen Wahlkommission. Diese hat den Anwält*innen die Wahlbeobachtung auch nicht verboten, im Gegensatz etwa zu Batman. 300 Anwält*innen werden in der Gegend unterwegs sein, überall hingehen und ihre Beobachtungen an die Wahlkommission und die Parteien weitergeben. Anwält*innen werden auch die Zählungen der Stimmen kontrollieren und ihre Beobachtungen veröffentlichen.

Grosse Sorgen machen Özaraz die Aussagen einiger Minister in der Regierung. So sagte etwa der Verteidigungsminister, die Wähler*innen von republikanischen Parteien wie der CHP hätten hohe Haftstrafen zu erwarten. „Sag, wir sollen zuschlagen, und wir tun es.“
Schon jetzt hat die Kammer grösste Bedenken: Der HDP droht ein Verbot, gewissen Kandidat*innen eine hohe Haftstrafe. Das führte dazu, dass die HDP sich gezwungen sah, sich neu zu organisieren und als politisches Projekt im Dach der Yeşil Sol anzutreten. Ausserdem mussten sie gewisse Kandidat*innen von der Wahlliste streichen. Gemäss Özaraz gelten nicht die gleichen Rechte für alle Parteien. Dass Erdoğan selbst sich nicht an die Gesetze hält, sagt alles. Er hätte nach zwei Amtszeiten abtreten müssen und tritt nun erneut an.

Özaraz befürchtet, dass – wie schon bei früheren Wahlen –, ungültige Stimmzettel, die nicht von den Wahlkommissionen abgestempelte worden sind, illegalerweise zugunsten Erdoğans mitgezählt werden. Mit Einschüchterungen sei je nach Region zu rechnen.
Özaraz fordert uns auf, Unregelmässigkeiten und Verstösse gegen die Rechtsstaatlichkeit zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Damit werde Druck aufgebaut und die Arbeit der Anwält*innen erleichtert.
Auch viele Anwält*innen wurden inhaftiert. Besonders unter Druck stehen die Vorsitzenden der Anwaltskammern. So wurden 301 von ihnen angezeigt, weil sie eine Erklärung für Frieden und Freiheit abgegeben hatten. Sie können ihre Aufgaben nur unter sehr erschwerten Bedingungen wahrnehmen.

Grosse Wahlveranstaltung von Yeşil Sol Parti

Die Strassen sind beflaggt mit verschiedenen Parteifahnen. Yeşil Sol ist überall. Riesige Menschenmengen strömen in Richtung Versammlungsplatz, halten Fahnen in die Höhe, zünden Feuerwerk, das roten, gelben und grünen Rauch produziert. Die Stimmung ist ausgelassen. Riesig ist auch das Polizeiaufgebot. Die Strasse ist gesäumt von Polizei- und Militärfahrzeugen mit vielen Panzern und Wasserwerfern - auf Dächern sind Schützen postiert.

Der Zugang zum Platz ist durch mehrfache Polizeikontrollen je für Männer und Frauen gesichert. Gewisse Gegenstände wie Kugelschreiber, Feuerzeuge, Wasserflaschen oder Powerbanks werden uns abgenommen. Wenn wir sie nicht aushändigen, werden wir zurückgewiesen. Doch die Kontrollen sind sehr willkürlich. Einige Polizist*innen geben die Gegenstände zurück, andere beschlagnahmen sie nach Gutdünken. Einmal genügt die ID allein, einmal nur zusammen mit dem Einreiseausweis, ein andermal wird ein Pass gefordert. Jemand wurde in der einen Kolonne abgewiesen, aber in der anderen hereingelassen. Die Ausweise werden fotografiert oder auch nicht.

Auf dem Versammlungsplatz ist das Gedränge gross. Die Menschen freuen sich sehr über unsere Anwesenheit und bedanken sich bei uns. Ein Jugendlicher bittet uns, für die Freilassung von Selahattin Demirtaş zu sorgen. Der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP ist seit 2016 im Gefängnis des Typs F und müsste gemäss einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entlassen werden. Die türkische Regierung setzt sich über das Urteil hinweg.

 

Am Ende der Veranstaltung beobachten wir, wie eine Gruppe Jugendlicher, die offensiv für die Yeşil Parti wirbt von der Polizei ergriffen. Der Wasserwerfer wird eingesetzt. Wir treffen die Jugendlichen später zufällig. Sie berichten uns von ihren Verletzungen und dass eine Person, die «Freiheit für Selahattin Demirtaş» gefordert hat, verprügelt wurde. Weitere Jugendliche wurden ihren Aussagen zufolge von der Polizei mitgenommen.

Treffen mit weiteren VertreterInnen von NGOs

Am Rande der offiziellen Delegationstreffen haben wir weitere Menschenrechtsorganisationen besucht. Auch sie betonen, wie wichtig die Wahlen seien, besonders für Frauen, für die es die letzte Wahl sein könnte. Es bestünden Pläne, alleinstehende Frauen unter eine Art Vormundschaft zu stellen. Zudem befürchten sie, es werde zu Gewalt kommen, sollte die Opposition gewinnen. Bereits jetzt würden Waffen an die Milizen verteilt.

Wahlabend 14. Mai

Während in der Nacht die Auszählung der Stimmen abläuft, steigt das Polizei- und Militäraufgebot in Van merklich an. Auf dem Weg ins Hotel treffen wir in den sehr ruhigen Strassen Panzerfahrzeuge, Wasserwerfer und Soldaten an.

 

Teil 3: Fazit

Im Zeitraum der Wahlbeobachtung an den Wahllokalen konnten wir zwar teilweise Einschüchterungsversuche gegen gegenüber Teilnehmenden der Beobachtungsdelegation, aber keine groben Verstösse wie Wahlmanipulation oder Repression feststellen. Detaillierte Informationen und Bemerkenswertes sind in Teil 1 des Berichts festgehalten. Dazu ist zu erwähnen, dass wir die Wahllokale jeweils nur für einen kurzen Zeitraum betraten, weder bei der Öffnung, noch bei der Schliessung anwesend waren und auch den Auszählungsprozess nicht begleiteten.

Die Befürchtung des Präsidenten der Anwaltskammer, dass unregistrierte Stimmzettel für die AKP auftauchen würden, scheint sich am Morgen zu bestätigen. Die Zeitung Yeni Yasam Gazetesi veröffentlicht ein Video auf dem eine Blockabstimmung zu sehen ist und mehrere Wahlzettel durch eine Person gestempelt werden und verweist im Live-ticker auf weitere Verstösse[2]. Die Mesopotamia News Agency[3] berichtet später auf Twitter, dass in Amed/Dyarbakir Stimmen der Yeşil Sol Parti fälschlicherweise der ultranationalistischen MHP zugeschrieben wurden.

Hierbei handelt es sich jedoch um Prozesse, die wir im Rahmen unserer Arbeit nicht begleiten und damit auch nicht selbst beobachten konnten. Daher ist es wichtig, dass unser Bericht nur als sehr kleiner Teil einer Gesamtbewertung betrachtet werden kann.

Die Voraussetzungen zur Einhaltlung allgemeiner Wahlgrundsätze (allgemeines Wahlrecht, freies Wahlrecht, geheimes Wahlrecht, gleiches Wahlrecht, persönliches Wahlrecht, unmittelbares Wahlrecht) wurden insbesondere im Vorfeld beschnitten. Mit der Einschränkung der Pressefreiheit insbesondere durch das neue Mediengesetz[4], das im November verabschiedet wurde und Haftstrafen für Journalist*innen und Social-Media Nutzer*innen vorsieht, sind die Voraussetzungen für freie Wahlen kaum gegeben. Die zehn Provinzen, die vom Erdbeben betroffen waren, galt seit Februar der Ausnahmezustand, sodass jederzeit Ausgangssperren sowie Versammlungs- und Demonstrationsverbote verhängt werden konnten. Auch war die staatliche Machtdemonstration am Vortag zu den Wahlen spürbar. Es herrschte eine hohe  Polizei- und Militärpräsenz während der HDP-Versammlung am 13.05., die sich vollkommen unnötig in Gewalt gegen Jugendliche entlud. Das drohende Parteiverbot der HDP und die Inhaftierung von Mitgliedern und Abgeordneten der HDP verstossen mindestens gegen die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Voraussetzungen für freie, gleiche und faire Wahlen sind.

 


[1] In einer früheren Version war hier die Rede von Typ F Gefängnissen. Typ F Gefängnisse werden allerdings auch weiterhin gebaut.

[2]yeniyasamgazetesi4.com/turkiyede-halklar-sandik-basinda/

[3]mezopotamyaajansi35.com/en/ALL-NEWS/content/view/208471

[4]https://www.tagesschau.de/ausland/europa/tuerkei-gesetz-presse-101.html