Die Covid-Pandemie – 
ein Jahr voller Widersprüche

Dieser Artikel ist der Versuch, nach einem Jahr Corona-Pandemie sowohl eine persön­liche wie auch eine politische Veror­tung aus einer linken Perspektive vorzu­nehmen und entsprechende For­derungen zur Bewältigung der Krise zu definieren. Doch je mehr ich über die Sache nachdenke – auch unter Einbezug meiner Alltagserfahrungen als Vater zweier jugend­licher Kinder –, desto mehr verstricke ich mich in Widersprüche. Ich werde in diesem Artikel vor allem auf die psycho-soziale Ebene fokussieren.

War es während der ersten Welle im Frühjahr noch relativ einfach, einen ersten Lockdown umzusetzen, gelingt dies in den letzten Monaten immer weniger.  Die angeordneten Massnahmen erscheinen zum Teil wider­sprüchlich und stossen zunehmend auf Kritik bis hin zu offenem Widerstand. Es wird offensichtlich, dass die Regierungen auf eine solche Pandemie nicht vorbereitet waren. Es zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht in der Lage ist, diese weltweite Pandemie im Ansatz intelligent und existenzsichernd zu meistern. Eine Parallele zur Klimakrise und der Unfähigkeit der Regierungen, die dies­bezüglich notwendigen Massnahmen einzu­leiten, drängt sich geradezu auf.
Unvorbereitet in die grösste Gesundheits- und Wirtschaftskrise
Etwas wurde uns in dieser Pandemie gnadenlos vor Augen geführt:  keine Nation war auf ein solches Ereignis vorbereitet. Staaten mit gut ausgebauten Gesundheits­wesen kamen zwar bisher besser durch die Krise, und doch sind auch dort die Auswirkungen katastrophal. Obwohl die Schweiz eines der besten Gesundheits­systeme hat, war sie überhaupt nicht auf eine Pandemie vorbereitet. Es fehlte an Schutzbekleidung, Schutzmasken, genügend Testmöglichkeiten und einem national koordiniertem Vorgehen. In den Spitälern und Pflegeheimen fehlte genügend qualifiziertes Personal, und die existenz­sichernden wirtschaftlichen Mass­nahmen kamen unkoordiniert und zu Beginn zögerlich. Ohne staatliches Handeln wäre die Wirtschaft innert Kürze auch in der reichen Schweiz zusammengebrochen.  
Vor den Auswirkungen der Covid-Pandemie sind nicht alle gleich
Zudem mussten wir erkennen, dass nicht alle gleich von der Pandemie betroffen sind. Armutsbetroffene und Menschen in prekären Verhältnissen sind aufgrund ihrer sozialen Situation dem Virus stärker ausgesetzt. Die Voraussetzungen für Arbeiten im Home Office sind zudem nicht für alle gegeben. Es gibt systemrelevante Berufe (u.a. Ärzte­schaft, Pflegepersonal, Verkäufer*innen, Lehrpersonen und Kita-Angestellte), die sich nicht in ihre eigenen vier Wände verabschieden können. Diese Dienst­leistungen braucht es in einer solchen Krise weiterhin. Ebenso wenig sollte sich das Parlament selbst verabschieden, da es gerade  in Zeiten von erstarkter Regierungs­tätigkeit wichtig ist, dass das Parlament seine Aufgabe wahrnimmt.   
Nach einem Jahr sind die Auswirkungen katastrophal – ist der Zero Covid-Aufruf zurzeit umsetzbar?
Der Zero Covid-Aufruf wurde bereits von über 90'000 Personen unterzeichnet und hat eine grosse Resonanz. Der europäische Aufruf ist als Reaktion auf die bisherige zu lasche Pandemiepolitik der Regierungen zu verstehen. Es geht dabei um nichts Geringeres, als die Pandemie zu beenden und die Ansteckungen auf null zu bekommen, sowie um einen solidarischen Shutdown von mehreren Wochen in Europa. Die Zero Covid – Strategie basiert auf dem internationalen Aufruf, welcher von Wissenschaftler*innen Ende Dezember ver­öffentlicht wurde.
Die Forderungen des Aufrufs sind aus linker Perspektive berechtigt und wichtig. Der Aufruf stellt auch notwendige Zusammen­hänge her. Trotzdem habe ich den Aufruf nach langem persönlichen hin und her bisher nicht unterzeichnet. Vielleicht hätte der Aufruf anfangs Oktober funktionieren können. Er hätte die zweite Welle der Pandemie sicher stärker abgebremst als der Flickenteppich von teilweise wider­sprüch­lichen Massnahmen. Kurz nach dem Aufpoppen der zweiten Welle wäre die Bereit­schaft für ein gemeinsames euro­päisches Vorgehen vielleicht noch vorhanden gewesen – all die Massnahmen hätten aber auch zu jenem Zeitpunkt nicht nur auf der Basis von Freiwilligkeit umgesetzt werden können.

#ZeroCovid in Kürze
1. Wir beschränken unsere Kontakte auf ein Minimum - auch am Arbeitsplatz. Wir müssen alle nicht gesellschaftlich notwendigen Bereiche der Wirtschaft für eine gewisse Zeit stilllegen.
2. Niemand darf zurückbleiben. Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.
3. Der Markt hat nichts geregelt. Der Gesundheitsbereich muss sofort ausgebaut werden. Das heisst auch: Löhne rauf und keine Privatisierungen mehr.
4. Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen. Impfstoffe dürfen nicht den Profiten dienen, sondern müssen allen Menschen überall zur Verfügung stehen.
5. Die nötigen Massnahmen kosten Geld. Deshalb brauchen wir europaweite Covid-Solidaritätsabgaben auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen.


Doch aktuell bin ich sehr skeptisch. Aus meiner Sicht ist die im Aufruf verlangte konsequente Umsetzung in Europa nicht durch­setzbar und zwar aus folgenden Gründen:
1. Die negativen Auswirkungen der bisher getroffenen Shutdown-Massnahmen treten immer mehr zu Tage und die Bevölkerung in allen Ländern ist pandemiemüde und trägt weitergehende einschneidende Massnahmen kaum mehr mit. Dies zeigt sich an ganz unterschiedlichen Reaktionen – von illegalen Partys über gewalttätige Auseinander­setzungen bis hin zu Vereinsamung, psy­chischen Krisen und Suizid.
2. Die aktuelle Lage der Pandemie ist weiterhin alarmierend. Durch die zirku­lierenden Mutationen hat sich die Lage, trotz teilweise sinkenden Zahlen, wieder ver­schärft. Die Idee, mit einem gemeinsamen solidarischen Shutdown die Pandemie zu beenden, geht davon aus, dass dies grund­sätzlich möglich wäre. Doch ein Zero Covid ist aus wissenschaftlicher Sicht unrealistisch – Viren lassen sich weder von Grenzen noch von Kontakt­losigkeit vollständig aufhalten. Un­gleiche Ausgangslagen in den Regionen in Europa, aber auch in der Schweiz wird es immer geben, und ich zweifle an der Solidaritätsbereitschaft der Bevölkerung, stark einschränkende Massnahmen länger aufrecht­zuerhalten, damit eine europaweite Ein­dämmung der Pandemie erreicht werden kann.
3. Für die Einhaltung der Pandemie-Mass­nahmen über einen längeren Zeitraum braucht es eine psycho-soziale Ausgangslage, die dies zulässt und ermöglicht. Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Lage besonders gefährdet und von den Schutzmassnahmen betroffen sind – wie beispielsweise Obdach­lose, Armutsbetroffene, Asyl­suchende, aber auch Kinder, Jugendliche junge Erwachsene und ältere Menschen – gehen in der jetzigen Situation und auch im Zero Covid-Aufruf vergessen. Der Widerspruch bleibt bestehen: Es gibt keine Durchsetzung der Pandemie-Massnahmen, ohne dass die Verletzlichkeit der besonders betroffenen Gruppen nicht zunimmt.  
4. Der Anstieg der psychologischen Krisen bei Kindern und Jugendlichen ist alar­mierend. Es wird von einem verlorenen Jahr gesprochen. Die Motivation, die Krise gemeinsam zu meistern, ist gegenüber dem Frühjahr stark abgesunken. Ein Jahr lang Fernunterricht, kaum Jobs oder Lehrstellen, keine organisierte Freizeit und kein Ausgang – alles Lustvolle und Identitätsstiftende glänzt mit Abwesenheit. Aus diesem Grund sollen Schule, soziale Ein­rich­tungen, aber auch gewisse Angebote für Frei­zeit unter Einhaltung der Schutz­mass­nahmen offen bleiben. Schulschliessungen soll es nur punk­tuell geben, dafür dann konsequent umge­setzt – z.B. wenn in einer Klasse oder einem Schulhaus gerade ein Hotspot entstanden ist.
Was fehlte bisher?
1. Die konsequente Ausweitung der Test­möglichkeiten ohne Kostenfolge, damit schneller und gezielter mit Eindämmungs­mass­nahmen reagiert werden kann.
2. Finanzielle Existenzsicherung für alle, unab­hängig von der Berechtigung auf Kurz­arbeits­entschädigung.
3. Konsequenter Mietzinserlass für das Klein­gewerbe, um Konkurse zu verhindern.
4. Aufbau von regionalen Produktionsstätten für Schutzbekleidung und Schutzmasken, um die Abhängigkeit zu vermindern.
5. Aufhebung der Patente auf Impfstoffen und solidarische Unterstützung durch die bas­lerische Pharma, um die Produktion des Impfstoffs zu beschleunigen.
6. Der Wiederaufbau des nationalen Impf­zentrums.
7. Ein europäisches Vorgehen zu einer koor­dinierten Öffnung der Aussengrenzen zur Aufnahme der Flüchtlinge aus den Lagern.  

Oliver Bolliger, Grossrat