Wenn Armut menschliche Züge annimmt

Ich bin in Eile. Ich will meinen Zug noch erwischen. Da begegne ich ihr - vor der Konfiserie Schiesser. Sie trägt einen knöchellangen bunt gemusterten Jupe. Das Oberteil will von seiner Musterung nicht zum Jupe passen. Die Kleidung drück Armut aus. Ihre Haut ist von Wind und Wetter gegerbt. Ihr Haar ist mit einem Kopftuch bedeckt. Sie bittet mit einem Pappbecher um ein wenig Geld. Sie tut dies nicht aufdringlich, aber mit einer gewissen Hartnäckigkeit. Sie will schliesslich meine Aufmerksamkeit.
Mein Tram kommt. Ich steige ein.
Auf meiner ganzen Reise begleitet mich die Erscheinung dieser Frau. Sie könnte eine Romni sein. Vielleicht ist sie einfach nur eine rumänische Frau. „Spielt das wirklich eine Rolle?“ Geht es mir durch den Kopf. Sie ist arm, welcher Ethnie sie auch angehört. Sie erfährt Verachtung, Beschimpfung gar. Ich habe die Beschimpfung durch einen Mann mit Hund noch beim Einsteigen beobachten können.
Ich schreibe noch am selben Abend Professor Jean-Pierre Tabin. Er forscht seit Jahren zum Thema bettelnder Menschen. Ich eerhalte noch am gleichen Abend eine ausführliche E-Mail des Professors.
Er beschreibt, „die Darstellungen der Bettelguppen sind stereotyp“ Sie werden aus kulturwissenschaftlicher Sicht als die Andersartigen, „de Bon sogvages folklorique“ oder eben als die guten Wilden betrachtet. Aus soziologischer Sicht gibt es eine über tausendjährige Ablehnung von Armut und eine daraus entwickelte Darstellung organisierter Armut.
Professor Tabin erforscht seit Jahren die Bettler*innen in der Stadt Lausanne. Er beschreibt, dass die bettelnden Menschen mit ihrer Familie oder in kleinen Gruppen aus Rumänien zu uns kommen. In ihrem Herkunftsland haben sie keine Aussicht auf Arbeit oder soziale Unterstützung. Sei bleiben einige Monate bei uns. Den grössten Teil ihres Verdienstes, er beträgt ungefähr 20.- Franken am Tag, schicken Sie ihren Angehörigen in Rumänien.
Ich mag mich an einen Vortag von Professor Tabin erinnern, in dem er den Alltag dieser bettelnden Menschen beschrieb. Diese Menschen sind damit beschäftigt einen Ort zum Essen, Schlafen, sich waschen, Wäsche waschen zu finden, das nimmt bereits einen guten Teil des Tages ein. Dann bleibt noch die Zeit in der sie Geld verdienen, sprich erbetteln, müssen. Für bandenmässiges organisiert sein bliebe da keine Zeit mehr, war damals die Aussage des Sozialforschers.
Im Weitern benennt Herr Tabin tatsächlich Organisationen, die systematisch vom Betteln profitieren. Es sind zum einen die Carunternehmen (z.B. Eurolines), die die Menschen aus Rumänien in die Schweiz bringen und zum anderen die Bankunternehmen (Western Union) die einen Teil des erbettelten Geldes nach Rumänien transferieren.
Wenn ich mir die Situation in Basel vor Augen führe, dann fällt mir auf, wie heftig hier eine menschliche Tragik als Wahlpropaganda missbraucht wird. Der politische Diskurs findet in einigen Parteien nur auf der Ebene statt, diese sichtbare Armut aus dem Stadtbild zu entfernen.
Eigentlich bräuchten diese Menschen unseren Respekt und unsere Akzeptanz.
Die Begegnung mit der bettelnden Frau hat der Armut menschliche Züge gegeben. Ich bewundere ihren Lebensmut und ihren Willen, ihre Situation und die ihrer Familie zu verbessern.
Ursulina Gruber