Utopien aus der Krise

Auf der Suche nach den Utopien aus der Krise fühlte man sich dieser Tage wohl etwas verloren. Menschenleere Strassen, emotionale Überforderung in der Enge des häuslichen Lockdowns, Sorge um ein möglicherweise kollabierendes Gesundheitswesen oder erkrankte Angehörige regen nicht zum Träumen an. Mein ganz persönliches, individuelles Wünschen beschränkte sich zumeist darauf, dass der Horror doch bitte bald aufhören möge.

Gleichzeitig prognostizierten einige Zukunftsforscher wie Matthias Horx für die Zeit nach der Krise eine Phase der Besinnlichkeit. Der Rückblick auf die Pandemie­Krise würde auch schönes zeigen und der stetige Konsumdrang würde der Erkenntnis, was «wirklich wichtig ist im Leben» weichen: Gesundheit. Sicherheit. Geborgenheit.

Diese Zukunftsprognose wirkt auf mich, wie in einem Paralleluniversum kreiert. Schliesslich verschärft die Dreifachkrise aus Crash, Rezession und Pandemie ökonomische Unterschiede und geschlechtsspezifische Diskriminierungen massiv. Hinter uns liegt die Erfahrung der Isolation und Beschränkung unserer Freiheit, vor uns grosse Verteilungskämpfe, wer die Krise am Ende zahlt. Mit Sicherheit werden wir Erfahrungen mitnehmen. Die Verletzlichkeit des Lebens war für viele von uns nie so spürbar wie jetzt. Auch der enorme Kraftakt, den uns der Lockdown abrang, um den Erhalt aller systemrelevanten Tätigkeiten zu gewährleisten. Corona macht müde und das liegt nicht am Virus.

Die Zukunftsprognose individueller Besinnung durch allgemeine Harmonisierung kann ich in der Form nicht teilen. Dennoch hat die Krise auch Momente geschaffen, die Hoffnung machen. Vieles, was vorher undenkbar war, wurde plötzlich möglich.

Güterkonversion & Ökonomie

Adam Smiths unsichtbare Hand, die den Markt regelt, glänzt in Krisenzeiten durch Abwesenheit. Damit meine ich nicht nur die Klopapierkrise und kleinere Versorgungsengpässe für Konserven oder Teigwaren, sondern vor allem die Frage nach Beatmungsgeräten, Desinfektionsmitteln und Atemmasken. Für einen Teil der Konsumgüter bildeten sich Schwarzmärkte mit horrenden Preissteigerungen. Für andere mussten schnellstmöglich neue Produzenten gefunden werden. Und siehe: Es war möglich. Teilweise über Notstandsgesetze, teilweise über streikende Arbeitnehmende und in einigen Fällen vielleicht aus Einsicht organisierten Konzerne eine Konversion. Der Düsentriebwerkshersteller General Electrics sah sich mit heftigen Streiks konfrontiert, weil seine Arbeiter*innen eine Konversion auf Beatmungsgeräte forderten. General Motors produzierte anstatt Autos plötzlich Atemschutzmasken und Beatmungsgeräte und der Schnapsproduzent Jägermeister Desinfektionsmittel. Diese Güterkonversionen gingen zudem erstaunlich schnell vonstatten. Das Tabu der politischen Einflussnahme in die Güterproduktion ist gebrochen. Auch das Dogma der schwarzen Null in Staatshaushalten scheint für den Moment ausser Kraft. Der Knebel der Schuldenbremse, mit dem die Troika beispielsweise Griechenland und Italien kaputtsparte und auch ihr Gesundheitssystem in die Knie zwang, ist im Moment vielerorts ausser Kraft gesetzt.

Systemrelevanz

Wilde Streiks in Italien führten dazu, dass die Arbeiten in nicht systemrelevanten Bereichen eingestellt wurden. In Schweden gab es ein Umschulungsprogramm für Flugbegleiter*innen zu Krankenpfleger*innen. Überhaupt standen systemrelevante Bereiche wie Kinderbetreuung, Pflege, Müllabfuhr, aber auch die Verkäufer*innen im Zentrum vieler Sonntagsreden (und Werbefilme). Hunderte Menschen standen regelmässig auf Balkonen und klatschten für diejenigen, die es gerade nicht sahen, weil sie arbeiteten. Selbstverständlich geht es hier erstmal um Symbolpolitik. Doch diese Symbole können auch zu einem Bewusstsein für den Wert der Tätigkeit beitragen und bevorstehende und aktuelle Verteilungskämpfe stärken. Verkäufer*innen und Pflegende haben Rückendeckung, wenn sie Respekt und Lohn einfordern. Gleichzeitig wird niemand für sie kämpfen, wenn sie es nicht selbst tun.

Systemrelevant sind aber nicht nur die bezahlten Tätigkeiten. Kinderbetreuung und Lernbegleitung neben dem Homeoffice zu leisten, brachte viele an den Rand der Verzweiflung. Grosseltern, die normalerweise einspringen, wenn die Nerven blank liegen oder die Lohnarbeit es erfordert, waren jetzt tabu. Plakate mit Titeln wie «Bring Corona nicht zur Oma» zierten als Warnung sogar einige Apothekenschaufenster. Die Erschöpfung einer 24­Stunden­Doppelbelastung und die Nichtanerkennung dieser Leistung schaffen nach wie vor Prekarität.

Kein Zurück zur Nomalität!

Der kapitalistische Autopilot ist im Moment abgeschaltet. Wer ein Zurück zur Normalität fordert, akzeptiert und legitimiert den Zustand

vor Corona. Eindrücklich sahen wir, dass Länder mit ausgebautem Sozialstaat, guten Arbeitsschutzgesetzen und stabiler Gesundheitsversorgung besser durch die Krise kamen und kommen werden. Die spanische Regierung wird sogar mit Hilfe eines Grundeinkommens nachbessern. Doch viele der Zugeständnisse und kleinen Lichtblicke in den eher finsteren letzten Monaten waren keine Geschenke, sondern sind sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen sowie Auseinandersetzungen in Parlamenten geschuldet. Die Politik der «ausweglosen Vernunft» drängt zurück in die Ökonomie, die uns die Krise eingebrockt hat. Vermeintlich neutrale Akteure wie die Leopoldina­Stiftung fordern, als Krisenmanagement an der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung festzuhalten. «Dazu gehören der Rückzug aus Unternehmen, sofern krisenbedingt Beteiligungen stattfanden, und der Abbau der Staatsverschuldung.» Doch genau das gilt es nun zu verhindern, denn „dass es ‚so weiter geht‘, ist die Katastrophe“. (Walter Benjmin)

Holen wir uns die Zukunft zurück

Die Erfahrungen der Dreifachkrise schreien geradezu danach, wichtige Infrastruktur wie Telekommunikation, Wohnraum, Gesundheits­ und Energieversorgung zu demokratisieren und zu rekommunalisieren. Wir sehen, dass die fiskalischen Folterinstrumente wie Schuldenbremsen über Bord geworfen werden müssen, damit wir nicht kentern. Und wir sehen, dass ein Teil der Wirtschaft deglobalisiert und relokalisiert werden muss – im Sinne der Versorgungssicherheit, aber auch im Sinne der Ökologie. Schliesslich liegt vor uns eine Klimakrise noch gewaltigeren Ausmasses, für deren Bewältigung die Frage, was und wie produziert wird, nicht Privatsache bleiben darf.

Die Hoffnung auf eine andere Zukunft liegt nicht ausgebreitet vor uns, und sie entsteht auch nicht durch besinnliche Stunden auf der Couch. Sie liegt vielmehr in den Kämpfen, die wir aktuell führen, und in den Widersprüchen, die die Krise auf heftige Weise offenlegt. In der Finanzkrise 2008ff rettete man die Banken, weil sie systemrelevant seien. Jetzt sehen wir, dass es die harte Arbeit vieler Menschen ist, die systemrelevant ist. Doch die Rettungsmilliarden kommen nicht an, wo sie gebraucht werden, wenn wir nicht gemeinsam dafür kämpfen. Vermutlich wird der Klassenkampf von oben mit aller Brutalität zuschlagen, sobald die "Normalität" wieder hergestellt ist. Die gleiche Vehemenz sollten auch wir in den anstehenden Verteilungskämpfen an den Tag legen. Ein Schutzschirm für Menschen ist dabei genauso wichtig wie die Demokratisierung des Finanzwesens und ein Konjunkturpaket, das an die sozial­ökologische Wende gekoppelt ist. Die Corona­Krise hat durchaus Fenster für demokratische Planung, gerechte Vermögensverteilung und linke Wirtschaftskonzepte geöffnet. Diese Chance zu nutzen und Kräfteverhältnisse hin zu einer Ökonomie zu verschieben, die die Bedürfnisse des Lebens ins Zentrum stellt, in der Zeit, Macht, Geld und Raum neu verteilt werden, ist nun unser aller Aufgabe.

Franziska Stier, Parteisekretärin BastA!