Kafkaeske Willkür auf Basels Strassen

Auf meinem Schreibtisch stapeln sich politische Strafbefehle aus dem Jahr 2020. Seit mehr als einer Woche blicke ich mal rätselnd, mal empört, mal voller Zynismus auf die Zettel. Etwas ratlos blicke ich in meine Fotoarchive und Artikel, um meine eigene Perspektive zu erinnern.

Aber es will nicht so recht passen und was bleibt, ist das Gefühl, dass unter dem Vorwand der Pandemie die Grundrechte zum Abschuss frei gegeben wurden.
Die politische Linke ist sich einig, dass es Massnahmen zum Schutz vor Ansteckung braucht und dass jedes Leben zählt. Uneinig ist man sich in der Frage, was es heisst, «solidarisch» durch die Krise zu kommen und welchen Wert wir dabei demokratischen Rechten und Prozessen beimessen.
Um euch mein Unbehagen damit verständlich zu machen, möchte ich chronologisch die ein­schlägigen Ereignisse nachzeichnen:

Zu Viert gegen Syngenta

Den Auftakt absurder Strafbefehle löste am 25. April die Online-Demo vom March against Syngenta aus. Zu diesem Zeitpunkt war es Menschen erlaubt, sich zu fünft im öffentlichen Raum zu besammeln. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit war zu diesem Zeitpunkt ausser Kraft. Eine Kleingruppe, bestehend aus vier Personen, organisierte den Live-Stream für die Online-Demo. Auf ihrer Route wurden sie zweimal von der Polizei kontrolliert und streamten natürlich auch dieses Vorkommnis. Im Ergebnis erhielt die Gruppe, die alles daran setzte, die auf Grund der Pandemie notwendigen Sicherheitsmassnahmen zu respektieren und trotzdem sichtbar zu demonstrieren, zunächst einen Strafbefehl wegen «mehrfacher Verletzung des Geheim- und Privatbereichs durch Aufnahmegeräte», der schliesslich eingestellt wurde und auf den ein zweiter folgte: «Anstiftung zur Hinderung einer Amtshandlung, Wider­handlung gegen das baselstädtische Über­tretungs­­strafgesetz (Diensterschwerung), mehr­fache Übertretung der COVID-19-Verordnung 2.» Kosten: Rund 4'000 Franken plus Bewährungs­strafen.

Heraus zum 1. Mai!

Der nächste absurde Strafbefehl trudelte bei rund 50 Teilnehmer:innen der inoffiziellen 1. Mai Demonstration ein. An der Demo wurden wichtige Forderungen aufgestellt wie die Rekommunalisierung der Spitäler, schliess­lich reiche Applaus nicht aus. Die Gesundheit aller müsse vor dem Profit kommen. Es ging um Lohnfortzahlung in der Krise und um den Mietstreik. Aber auch Klimagerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und die Evaku­ierung von Moria wurden thematisiert. Alles Themen, die keinen Aufschub zulassen und die sich mit der Corona-Krise zugespitzt haben. Der Demo- Aufruf forderte aus­drücklich dazu auf, die notwendigen Schutz­massnahmen einzuhalten. Man solle sich in Kleingruppen, mit Masken und dem nötigen Abstand treffen.
Mehrere hundert Menschen trafen sich schliesslich in der Klybeckstrasse und zogen gemeinsam via Barfüsser- zum Wett­steinplatz. Die öffentliche Empörung – selbst im sozialdemokratischen und grünen Lager – über das Beharren auf Grundrechten war gross. Im Nachgang der Demonstration gab es polizeiliche Kontrollen. Einige wurden vor der Haustür noch anhand der Fahne erkannt und kontrolliert, andere aus dem Imbiss geholt. Am Ende stehen für alle Kon­trollierten, also rund 50 Personen, je 1630,65 Franken Busse. Um den Polizei­einsatz zu finanzieren, hat man den «renitenten Linken» noch ÖV Behinderung und Verstoss gegen das Übertretungsstrafgesetz auf die Rech­nung geschrieben. Peter Gill, Sprecher der Staatsanwaltschaft erklärt gegenüber Bajour, dass die Kosten «im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz» stünden. Es ist das erste Mal, dass die Kosten eines Polizei­einsatzes damit direkt auf Demonstrierende abgewälzt werden. Das ist zwar schon lange eine Forderung bürgerlicher Parteien, aber grundrechtlich ist das höchst problematisch.

Ungehorsame Frauen und TINF

Den dritten Akt bildete der Frauenstreiktag am 14. Juni. Neben den bewilligten Platzkundgebungen formierte sich eine Demonstration, die zunächst auf der mittleren Rheinbrücke unter dem Motto «Fraulenzen und Queerstellen» pausierte und später auf der Johanniterbrücke gekesselt wurde. 280 Frauen, trans, inter und non-binäre Menschen erhielten eine Busse wegen Verstosses gegen die Covid-19-Verordnung, obwohl Besammlungen bis 300 Personen zu diesem Zeitpunkt erlaubt waren. Im Januar 2021 folgte an rund zehn vermeintliche Organisator:innen die Information, dass gegen sie ein Strafverfahren eröffnet wurde und die entsprechende Aufforderung zur Zeugenaussage als beschuldigte Person.

Antifaschismus ist kein Verbrechen

Der vierte „kriminelle“ Akt war die Baselnazifrei Demonstration am 04. Juli 2020 vor dem Sitz der Staatsanwaltschaft. Akti­vist:innen wollten auf die bevor­stehen­den Prozesse aufmerksam machen und hör­bar zeigen, dass Antifaschismus kein Verbrechen ist. In wenigen Minuten wurde die Besammlung in einer Seitengasse einge­kesselt. Kosten unklar.
Die Anklagepunkte dieser vier sehr unter­schiedlichen Aktionen reichen von ÖV-Behinderung, Organisierung einer unbe­willigten Demonstration, Dienster­schwerung bis zu Landfriedensbruch und unehrenhafte Betitelung von Polizeibeamten. Die einzige Gemeinsamkeit liegt zunächst nur im Vor­wurf der Übertretung der herrschenden Covid-­19-Verordnung. Den Aktionen war aber auch gemeinsam, dass man die Pande­mie und den gegenseitigen Schutz vor An­steckung ernst nahm, sich damit auseinander­setzte und auf unterschiedliche Bedürfnisse der Beteiligten Rücksicht nehmen wollte. Zum Verhängnis wurde den Aktivist:innen am Ende nicht, dass sie als rücksichtslose Corona-Panzer einen Superspreader-Event organisiert hätten, sondern dass sie Demo­kratie einforderten – auch im Notstand.

Demokratische Rechte, Vernetzung und Solidarität sind jetzt wichtiger denn je.

Ich hege ernste Zweifel daran, dass die ausgestellten Bussen oder das schroffe Einschreiten der Polizei in diesen Fällen dem Schutz vor der Pandemie dienten. Vielmehr bot es sich gerade an und Corona verlieh den Strafbefehlen und den Einsätzen zusätzliche Legitimität, denn wir sollten jetzt alle solidarisch sein und zuhause bleiben. Soli­darisch sein hiess 2020, politisches Handeln vollumfänglich an Parlamente, Regierungen und Kommissionen zu delegieren. Der Solidaritätsbegriff wurde in diesem Jahr arg strapaziert.
Ich möchte nicht missverstanden werden, ich sehe die Pandemie als reale Gefahr. Doch bei diesen Aktionen gab es einen demo­kratischen, kollektiven Entscheid, unter gebotener Vorsicht einem politischen Willen Ausdruck zu verleihen. Dieses Recht dürfen wir als Gesellschaft nicht leichtfertig opfern.
Die Beispiele zeigen, dass im vergangenen Jahr elementare Grundrechte enorm eingeschränkt, sogar ausgehebelt wurden. Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit besitzt in der Verfassung grosses Gewicht. Diese Grundrechte fielen nicht vom Himmel, sondern wurden erkämpft. Eine fehlende Bewilligung mag ein kleiner Regelverstoss sein, darf aber nicht zu Sanktionen führen, die Menschen faktisch die Freiheit zu demonstrieren nehmen – weder physisch noch finanziell.
Demonstrationen ohne Bewilligung sind nicht per se illegal, wie das gern behauptet wird. In der Verfassung steht: „Ein­schränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder den Schutz von Grundrechten Dritter gerecht­fertigt und verhältnismässig sein.“  In keinem der oben geschilderten Fälle ist ersichtlich, welches öffentliche Interesse das unver­hältnis­mässige Eingreifen von Justiz und Polizei rechtfertigen würde.

Aber wer kontrolliert die Kontrolleure?

Es ist an der Zeit, hier als Zivilgesellschaft stärker zu agieren. Unrecht juristisch anzu­klagen ist ein langwieriger, kostenintensiver und psychisch anstrengender Prozess. Und obwohl Polizist:innen mit Nichten einen leichten Job haben, scheint es einen Mechanis­mus zu geben, der ihnen von Berufs­wegen Recht zuspricht. Als könnten sie kein Unrecht begehen und wären in ihren Entscheidungen fehlerfrei. Demonstrierende hingegen geraten immer wieder in die Situation, sich für ihr Handeln rechtfertigen zu müssen. Oft in einem Raum, in dem ihnen weniger Glaube geschenkt wird als der Gegenseite.
Eine Möglichkeit der Intervention wäre es, Demobeobachter:innen aus der Zivil­gesell­schaft oder dem Parlament einzusetzen, die Demonstrationen begleiten und als unab­hängige Dritte eine vermittelnde Funk­tion in diesen Auseinandersetzungen und schliess­lich der Öffentlichkeit einnehmen.

Franziska Stier