Der Sozialismus kommt nicht angefahren - er muss erkämpft werden!

Unsere Alltagsgegenstände werden laufend auf den individuellen Gebrauch zugeschnitten, das Miteinandersein und Sachen teilen tritt immer mehr zurück.
Dieses Fördern des individuellen Konsums ermöglicht es dem Kapital, immer grössere Profite zu machen: Die öffentlichen Telefonkabinen werden durch ein persönliches Handy ersetzt, jede Wohnung bekommt einen Wäscheturm und die gemeinsame Waschküche verschwindet.
Und natürlich haben wir das Auto, anstelle von Zug oder Bus.
Das Auto, der Bürgerkäfig, der paradoxerweise für individuelle Freiheit schlechthin steht.
Nach Jahren von Dieselskandal und schlechtem Ruf als Klimakiller, scheint sich das Auto seit dem Einzug des Elektroantriebs neu zu erfinden. Der «Saulus wird zum Paulus» jubelt der TCS. In seiner mobility-academy schreibt er, das Automobil habe seine grössten Erfolge erst noch vor sich.
Ausgeblendet wird der ungebührlich grosse Platzbedarf und die weiterhin toxisch hohe Material- und Energieverschwendung bei der Herstellung und dem Betrieb.
Aber noch schlimmer: das Automobil scheint als weltweites Kultobjekt Unter- und Oberschicht in der gemeinsamen Anbetung zu vereinen. In Wirklichkeit aber wird der Klassengegensatz vernebelt. Der Besitz des Autos gaukelt auch da Wohlstand vor, wo in Bildung und Arbeitsverhältnissen das Elend vorwiegt.
Antisoziale Sozialisation
Als ich vor langer Zeit meinen Führerausweis machte, erzählte der Fahrlehrer, wie das Auto auch nette und sanfte Menschen in Grobiane verwandeln könne.
In Minima Moralia schreibt Theodor W. Adorno: «Welchen Chauffierenden hätten nicht schon die Kräfte seines Motors in Versuchung geführt, das Ungeziefer der Strasse – Passanten, Kinder und Radfahrer – zuschanden zu fahren?»
André Gorz nennt dies «antisoziale Sozialisation». Er beobachtet, wie der individualisierte Konsum und insbesondere das Auto das bürgerliche Denken und das bürgerliche Verhalten fördern. In seinem bedeutenden Werk «Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus» schreibt er: «In der Ideologie des Konsums im Überfluss steckt weniger das Versprechen auf Komfort als vielmehr das Bild von einer in ihrem einsamen und selbstgenügsamen Universum eingesperrten Monade: die Wohnung mit allem Komfort (d. h. ein von äusseren Dienstleistungen unabhängiges, abgeschlossenes Universum), in der man sich (dank Fernsehen) die Welt als Schauspiel gönnt, die man am Lenkrad eines Privatwagens verlässt, um die Natur ohne die Menschen zu geniessen. Man ist wütend über den Staat, der nicht genug Autobahnen baut, um diese Flucht zu erleichtern; aber man ist nicht wütend über die Profitwirtschaft, die diese Flucht sozusagen erzwingt.»
Der Text aus dem Jahr 1967 ist auch 2022 immer noch aktuell. Einzig hiesse es heute Internet statt Fernsehen und die Sprache würde gendern.
Damit sich nun die Menschen in Europa diesen Konsum im Überfluss leisten können, sind sie permanent darauf angewiesen, Geld zu verdienen.
Zeit statt Geld
Gorz analysiert die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Entwicklung und ihren Widersprüchen. Er sucht nach den Rissen im System, nach kleinen Lichtblicken, aus denen sich Strategien entwickeln lassen. Da mit dem Siegeszug des Neoliberalismus Anfang der 80er Jahre (Ronald Reagan wurde 1981 Präsident der Vereinigten Staaten) die prekären Arbeitsverhältnisse auch in Westeuropa zunahmen, beginnt Gorz wie andere Linke auch, Arbeit in einem neuen Kontext zu sehen. Arbeit muss sich jenseits der Lohngesellschaft entwickeln, der klassische Broterwerb muss einen immer kleineren Teil einnehmen zugunsten von Arbeiten, die auf Bedürfnissen von Gesellschaft und Natur beruhen und nicht auf Interessen der Wirtschaft.
Er entwirft gesellschaftliche Modelle mit neuen, multiaktiven Arbeitsformen, wo Zeit und nicht Geld das höchste Gut ist.
Grenzen des Wachstums
Im Jahr 1972 erschien der erste Bericht des Club of Rome «Grenzen des Wachstums». Das Buch erschütterte die Welt und setzte die Diskussion in Gang, wie der ökologische Zusammenbruch zu verhindern sei. Wie sollten wir uns eine lebenswerte Welt erschaffen? Wie konnte es sein, dass Fortschritt und Wachstum, die allmählich den Wohlstand für alle bringen sollten, gleichzeitig den Planeten zerstörten?
«Einer der am weitesten verbreiteten Mythen in unserer heutigen Gesellschaft ist das Versprechen, dass eine Fortführung der gegenwärtigen Wachstumsmuster zu menschlicher Gleichheit führen wird» schrieb der Club of Rome in ihrer Studie. Ein kapitalistischer Mythos.
Doch der Kapitalismus ist nur eine von vielen Epochen in der Geschichte der Menschheit, nur ein weiterer Schritt in unserer Entwicklung. Schon der Gedanke, dass etwas veränderlich ist, kann Mut machen.
Ohne ein wachstumskritisches Verständnis von Fortschritt und ohne ein neues Verhältnis zu uns selbst und unserer Umwelt, also menschlicher und nichtmenschlicher Natur, verharren wir in der Systemkrise, die unweigerlich in die Barbarei führt.
So zeigt sich, dass die Kernforderung der europäischen Gewerkschaften zumeist die Lohnerhöhung und die Anpassung der Löhne an die steigenden Kosten ist. Das ist bei den explodierenden Energie- und Gesundheitskosten sicher eine berechtigte und notwendige Forderung.
Trotzdem muss schon sehr bald auch eine kontinuierliche Reduktion der Arbeitszeit erkämpft werden. Und wen wundert es: der Widerstand von Seite der Arbeitgeber ist gross. Lieber mehr Ferien als kürzere Arbeitszeiten. Denn Ferien sind da zum Abschalten und Konsumieren. Hingegen haftet der Reduktion der (Erwerbs-)Arbeitszeit etwas Subversives an. Vielleicht eröffnen sich durch kreative Arbeit neue Perspektiven jenseits der Konsumwelt. Zudem würde die Reduktion der klassischen Arbeitszeit auch zu einem Wachstumsrückgang führen, was schlussendlich der Weg wäre, um die Klimakatastrophe zu verhindern.
Was nun, wie weiter?
Unser Bedürfnis nach Mobilität wird bleiben, genau wie unsere Sehnsucht zu reisen. Ohne liebevolles, geschwisterliches Verständnis der menschlichen Natur werden wir keinen Systemwechsel von Dauer erreichen.
André Gorz spricht von einem steinigen und schwierigen Weg zum Sozialismus. Ein «Sozialismus des Möglichen». Er hat Verständnis für die revolutionäre Ungeduld hat aber in der Revolution von 1968 gesehen, wie Forderungen nach allem oder nichts eine Bewegung sehr schnell ausbrennen lassen.
Fünfzig Jahre nach seinem ersten Bericht, publizierte der Club of Rome eine weitere Studie «Earth for All». In Bezug auf das Auto wird vorgeschlagen: weniger und kleinere Fahrzeuge. Solange die Zahl der motorisierten Fahrzeuge in der Schweiz jedes Jahr massiv zunimmt, sind wir noch weit von diesem Ziel entfernt.
Andreas Suter, BastA!