Den Neoliberalismus stürzen!

Neoliberale Politik-Konzepte sind heute omnipräsent. In den letzten 70 Jahren wurde das Gesellschaftskonzept einer kleinen Gruppe, die seinerzeit kaum ernst genommen wurde, zur treibenden Ideologie westlicher Staaten. Die neoliberale Ideologie greift unsere Leben auf verschiedene Weisen an. Sei es in der Planung des Gesundheitswesens – bis hin zur Art und Weise wie wir Liebe denken. Zentrale WegbereiterInnen des Neoliberalismus sind Friedrich August von Hayek, Ayn Rand und natürlich Milton Friedman. Den radikalsten und sozialdarwinistischsten Individualismus vertrat wohl Ayn Rand (1905–1982). In einem Essay von 1944 schreibt die gebürtige Russin «Totalitarism is collectivism». Totalitarismus sei Kollektivismus, weil sich das Individuum der Gruppe unterwerfen müsse. Das Individuum würde an das Kollektiv gekettet. In ihrer Vorstellung splittet sich die Menschheit in aktive und passive Menschen. Letztere hätten Angst vor der Unabhängigkeit, weshalb sie sich parasitär auf die Sorge und Wohlfahrt anderer stützen würden. Doch damit seien die aktiven Menschen an die Faulen gekettet. Ihr Fazit: «Kollektivismus ist nicht die Zukunft, sondern ein Relikt einer dunklen Vergangenheit. Die Zukunft gehört dem Individuum (individual Man) – dem einzigen Erschaffer einer menschlichen Zukunft…»1
Diese Vorstellung freier Individuen, die nur für sich selbst sorgen müssen, ist pures Gift für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Sorge um das Leben, die notwendig ist, um eine Gesellschaft zu reproduzieren, kommt in der neoliberalen Ideologie nicht vor – besonders nicht bei Ayn Rand. Zu Lebzeiten wurde sie von den Intellektuellen ignoriert, aber ihre Romane inspirierten Donald Trump und Elon Musk, schreibt der Deutschlandfunk.2 Sie gilt als Philosophin des Turbokapitalismus und zählt bis heute zu den einflussreichsten politischen Autorinnen der USA.
Der Herrschaftsknoten
Weite Teile der Gesellschaft sind darauf ausgerichtet, dem Kapitalismus zuzudienen. In jeder Steuerdebatte wird die Standortfrage für Wirtschaft und Vermögende aufgeworfen, denn selbst unsere Sozialversicherungssysteme sind auf steigende Profitraten angewiesen.
Gute Kinderbetreuung wird weniger im Kontext des Kindeswohls diskutiert, sondern um den Fachkräftemangel zu beheben und die Frauenerwerbstätigkeit zu erhöhen. Ökonomische Kennzahlen wie Wachstumsraten oder Bruttoinlandsprodukt bestimmen mehrheitlich das politische Handeln.
Auch Selbstentwicklung und Selbstentfaltung dienen vornehmlich der ökonomischen Leistungsfähigkeit. Wer seine Work-Life-Balance nicht im Griff hat, muss individuell an sich arbeiten.
Die an uns alle gerichtete Forderung der Marktanpassung wird als „lebenslanges Lernen“ beschönigt. Es geht mir hierbei nicht darum, jemandem den Yoga-Kurs oder die angefangene Weiterbildung zu vergrämen, sondern darum aufzuzeigen, dass für gesellschaftliche Probleme nur individuelle Lösungen angeboten werden.
Unter dem Stichwort „Eigenverantwortung“ werden wir vereinzelt und isoliert. Selbst in der Art und Weise wie wir (romantische) Beziehungen pflegen, hält mit Tinder und anderen Apps die Marktlogik Einzug in unser Handeln. Der Kapitalismus (aber auch Patriarchat und Rassismus) sind tief in uns eingedrungen. Er beeinflusst, wie wir leben, wie wir denken und sogar, wie wir fühlen.
Doch welche alternative Erzählung setzen wir diesem zerstörerischen Freiheits- und Marktverständnis entgegen? Eine mögliche Antwort findet sich in den materialistisch-feministischen Diskussionen um Sorgearbeit. Gabriele Winker, Frigga Haug aber auch der Debattenstrang um sorgende Männlichkeit innerhalb der Postwachstumsdiskussion entwickeln gesellschaftliche Transformationsstrategien, bei denen die Sorge um das Leben radikal ins Zentrum gesellschaftlichen Handelns rückt.
Wie genau könnte diese Transformation aussehen?
Ihr Ziel ist es, über Sorgearbeit und die Übernahme von Verantwortung für Mensch und Natur diese Gesellschaft zu verändern. Im Gegensatz zur neoliberalen Ideologie geht dieser Theoriestrang davon aus, dass unsere individuelle Existenz nur durch die Existenz der anderen Menschen möglich wird. Auch der poetische und junge Marx beschreibt diese Prozesse.3
Natürlich führt soziale Verantwortung allein nicht zum Bruch mit dem Kapitalismus. Gleichzeitig bindet uns das radikale neoliberale Konzept an ihn. Daher zielen diese Perspektiven darauf ab, eine andere Beziehung zu sich selbst und anderen (Mensch als auch Natur) zu entwickeln. Die Gesellschaft und ihren Reichtum zu demokratisieren sowie sozial verantwortlich zu handeln.
Für uns als Partei könnte das heissen, Möglichkeitsräume zu schaffen, in denen nach anderen Prinzipien gehandelt wird. Solche Möglichkeitsräume können in Genossenschaften, besetzten Häusern oder konkreter Nachbarschaftshilfe entstehen. Es geht um Orte, in denen wir «…probieren, abbrechen, aufhören, innehalten, pausieren [können], kein Masterplan also [haben], sondern immer nur ein Patchwork aus unterschiedlichen Experimenten»4.
Unter kapitalistischen Bedingungen sind allerdings auch diese Räume nicht frei von Ausbeutung oder Selbstausbeutung, aber sie bieten das Potenzial für die Entwicklung eines menschlichen Miteinanders.
Frigga Haug arbeitet mit der Vier-in-Einem Perspektive vier Kernbereiche heraus, die eine Gesellschaft zum Selbsterhalt organisieren muss: Politik (Gemeinwesensarbeit), Kultur (Selbstentfaltung), Erwerbsarbeit (Produktion der Lebensmittel), Sorgearbeit (Produktion des Lebens). Mit der Vier-in-Einem-Perspektive schlägt sie vor, dass diese Bereiche, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft sehr arbeitsteilig und hierarchisch organisiert werden, zeitlich gleichberechtigt auf alle Menschen verteilt werden. Das heisst, dass wir Arbeit viel umfassender denken als bisher. Politisches Engagement ist genauso Arbeit, wie Kinderbetreuung, Altenpflege oder Musikunterricht. Auch diese Arbeiten müssten gerecht verteilt werden und allen Menschen zugänglich sein. Dazu braucht es eine radikale Erwerbsarbeitszeitverkürzung und Zeitsouveränität. Eine 20 Stundenwoche muss auch für Verkäufer*innen oder Pflegende existenzsichernd sein.
Zudem ist die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit zentral für die Demokratisierung aller Lebensbereiche. Mitgestaltung des Quartiers, des Arbeitsplatzes oder der Wohngenossenschaft brauchen Zeit, die aktuell nur sehr wenige Menschen haben.
Care/Sorgearbeit als transformatorisches Konzept zu denken, heisst also, die konkreten Bedürfnisse des Lebens mit einem (sozialistischen) Fernziel zu verbinden. Die alten Parolen von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel als Weg zum Sozialismus sind nicht plötzlich falsch geworden. Sie haben den Zweck, die Wirtschaft zu demokratisieren. Doch unter der neoliberalen Maxime des Eigennutzes und der Eigenverantwortung hilft uns demokratische Kontrolle nur begrenzt. Das hat beispielsweise die Basler Grossratsdebatte, um den Corona-Bonus für Pflegende gezeigt. Während Steuergeschenke für Vermögende mit Vehemenz verteidigt werden, ist die Leistung der Pflegenden während der Pandemie in Vergessenheit geraten. Beide Parlamentsdebatten – das Steuerpaket und der Coronabonus für Pflegende – zeigen, wie wirkmächtig der Neoliberalismus die Politik prägt.
Um diese Welt umzubauen, müssen wir also Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung zusammen denken. Wir kommen nicht weiter, wenn wir nur eines in den Blick nehmen. Dazu bieten uns Gabriele Winker und Frigga Haug einen Kompass und vielleicht auch eine Landkarte, aber beschreiten müssen wir diesen Weg gemeinsam mit den vielen.
Franziska Stier
Literatur
1 Rand, Ayn; "The Only Path To Tomorrow"; Readers Digest, January 1944, pp. 88-90
2 www.deutschlandfunkkultur.de/philosophische-orte-ayn-rand-schreibtisch-kapitalismus-100.html
3 Marx, Karl, Pariser Manuskripte 1844
4 Welzer 2014, S. 139 aus Heilmann/Korn/Scholz, Caring Masculinities? Männlichkeiten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften, 2019
Gabriele Winker; Care-Revolution, 2015
Frigga Haug, Die Vier-in-Einem Perspektive, 2022


