Wahlbeobachtung Türkei: Ein Sieg trotz Coups

Vom 28. März bis 4. April nahm BastA! auf Einladung des Co-Präsidiums der DEM-Partei an der Beobachtung der Kommunalwahlen im Südosten der Türkei teil. Bei diesen Wahlen verbuchte die Opposition landesweit von Istanbul bis Van einen Sieg. Während im Westen die CHP enorm zulegte, war die Siegerin im Südosten, den Kurdischen Gebieten, die DEM.

Parteimeeting der DEM-Partei in Van/Wan am 1. April 2024 (nach den Wahlen)

Mehrere negative Trends kennzeichneten die aktuelle Entwicklung: Die international kritisierte Aushöhlung der Demokratie, die Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen für die grosse Mehrheit, die illegale Aggression und Besetzung von Teilen Syriens und des Irak sowie die zunehmende Instabilität auf internationaler, regionaler und lokaler Ebene bildeten den Hintergrund für die Wahlen.
In den  mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten im Südosten hat sich die Situation innerhalb der Türkei am negativsten entwickelt. Nach den Kommunalwahlen im Jahr 2019 wurden viele demokratisch gewählte BürgermeisterInnen von den Zentralbehörden abgesetzt und durch AKP-nahe Treuhänder ersetzt. Viele Politiker*innen und politische Aktivist*innen wurden inhaftiert und anderweitig verfolgt.
Wir waren Teil einer internationalen Wahlbeobachtungsdelegation von rund 125 Menschen und beobachteten die Situation in den östlichen Kantonen Van, Iğdır und Ağrı.

Hoffnungsvolle Stimmung in Van

In den Tagen vor der Wahl herrschte Aufbruchstimmung in der Stadt. Wir beobachteten, wie das Leben nach dem Iftar (Fastenbrechen) in vollem Gange war. Wahlkampfbusse, aus denen traditionelle Musik erklang, fuhren vorbei. Die Parteitreffen glichen eher einem Festival oder einer Kundgebung als einem Parteittreffen, wie wir sie kennen. Tausende strömten zu den Versammlungsplätzen, hörten die Reden der Kandidierenden und feierten. Auch wir nahmen an diesen Treffen teil. Auf dem Weg dorthin trafen wir jeweils auf Wasserwerfer und Panzerfahrzeuge sowie zahlreiche Polizeikontrollen. Am Einlass wurden unsere Ausweise lange kontrolliert und jeweils abfotografiert. So war die Möglichkeit zur Repression zwar präsent, doch im Bad der Menge verflogen alle Gedanken daran.
Auch der Co-Präsident der DEM in Van, Veysi Dilekçi, gab sich im Gespräch zuversichtlich. Er erwartete für den Wahlsonntag in Van keine grösseren Probleme, doch gab er uns mit, dass für die kurdische Bevölkerung viel davon abhängt, wie sich westliche Staaten gegenüber der Türkei verhalten. Von der EU-Politik erwartet er, dass sie stärker darauf achtet, dass die Türkei internationale Gesetze einhält, anstatt kurdische Politiker*innen zu inhaftieren oder gewählte Abgeordnete durch Zwangsverwalter zu ersetzen. Er kritisiert, dass sich sich Europa mit dem EU-Migrationspackt erpressbar gemacht hat. Gleichzeitig braucht die Türkei die Annäherung an die EU und er erwartet von den EU-Staaten, dass sie die türkische Regierung dazu drängen, internationale Gerichtsurteile (bspw. EGMR) anzuwenden. Auf Nachfrage zum Problem der Zwangsverwaltungen erklärt Herr Dilekçi, dass die Kayyums (Zwangsverwalter) nicht der Kern des Problems seien, sondern ein Ausdruck der Unterdrückung und der Doppelstandards. Nur eine gesunde, demokratische Gesellschaft, wie sie in Rojava existiert, könne die Probleme wirklich lösen.

Stimmungswechsel in Iğdır

Ein Teil unserer Delegation reiste nach Iğdır. Die Ausgangslage hier war eine völlig andere. Bei den letzten Wahlen gewann zwar die HDP (Vorgängerpartei der DEM), doch dicht gefolgt mit 46% von der MHP, dem rechts-radikalen Koalitionspartner der AKP-Regierung. Vor Ort trafen wir den DEM-Co-Präsidenten der Provinz Mehmet Selçuk, der uns herzlich empfing und uns in die Problemlage einwies. Er berichtete, dass rund 7000 Soldaten und Polizisten für die Wahlen in der Region registriert wurden. Das waren je nach Bezirk bis zu 10% der Stimmen. Auch wurde uns hier von Bestechungsversuchen berichtet. Menschenrechtsorganisationen informierten uns darüber, dass in Regionen, in denen der Anteil kurdischer Wähler*innen besonders hoch ist, 5000 Lira versprochen wurden, wenn sie anstatt zu wählen, die Stimmzettel abgeben und die Wahlcouverts leer einwerfen. Überprüfen konnten wir das nicht.
Die Stimmung in Iğdır war am Vorabend der Wahlen sehr angespannt. Es war Ramadan und die Restaurants waren voll – aber weniger mit Anwohner*innen, sondern vorwiegend gefüllt mit Militärs – nicht wenige von ihnen bewaffnet. Die Bevölkerung wusste, weshalb Tausende Soldaten in ihrer Stadt waren. Während des Essens nahmen um uns herum Faschisten Platz und beobachteten uns. Die Situation war gelinde gesagt: unangenehm.

Der Wahltag – 1. Coup

Die Wahlbeobachtung verlief für unsere beiden Gruppen verschieden. Die Gruppe, die im Süden Vans Dörfer beobachtete, hatte im Regelfall Zutritt zu den Schulen und konnte mit den Wahlkommissionen sprechen. Zwar waren Soldaten an den Schulen, doch schien sich daran kaum jemand zu stören und die Stimmung war vorwiegend entspannt.
Vollkommen anders sah es in Iğdır und Ağrı aus. Es gab keine Schule ohne Polizei – im Regelfall waren auch bewaffnete Polizisten dabei. Besonders am Morgen war die Stimmung angespannt, weil zu dieser Zeit auch die Soldaten – teils in Zivil, teils uniformiert auf den Schulgeländen waren. Ein Teil war dort zum Schlafen untergebracht worden ein anderer, um zu wählen.
Die Polizei kontrollierte stets unsere Ausweise, verschickte Fotos in Chats und liess prüfen, ob wir akkreditierte Wahlbeobachter*innen wären. Anschliessend forderten sie uns auf, das Schulgelände zu verlassen. An einer der Schulen zählten wir 10 Busse und drei Vans, die Soldaten zum Wahllokal transportierten. So beobachteten wir von ausserhalb, was schwarz auf weiss in den Wahllisten steht. In verschiedenen Regierungsgebäuden wie dem Polizeipräsidium oder einem im Bau befindlichen Gebäude wurden im Vorfeld der Wahlen Hunderte Männer zwischen 20 und 30 Jahren angemeldet. Eine solche Liste für Iğdır liegt uns vor. Die DEM spricht gesamthaft von 46 901 transferierten Personen für den gesamten Südosten.
Diese neu registrierten Wähler nächtigten häufig in Universitäten oder Schulen, die wenige Tage zuvor für die Unterbringung der Soldaten geräumt worden waren.

Gegen Mittag brachen wir nach Ağrı auf. Auch hier sprachen wir mit dem Co-Präsidium der DEM-Partei. Die Themen waren die gleichen: Tausende Soldaten und Polizisten, die zum Wählen in die Region geschickt wurden. Auch hier schickte uns die Polizei stets wieder weg. Besonders eindrücklich war der Besuch einer Schule in einem eher armen Viertel. Hier bewachte bewaffnetes Militär inklusive Panzerfahrzeug den Schulhofeingang. Auf dem Hof befand sich eine bewaffnete Spezialeinheit und weitere «normale» Polizisten. Es waren ähnlich viele Sicherheitskräfte wie Wählende auf dem Gelände. Surreal wirkte auf uns, dass auch einige Kinder auf dem Schulhof spielten – mit DEM-Fahnen.
Trotz dieses enormen Wählertransfers aus dem Westen der Türkei gewann die DEM die Wahlen in den beiden Regionen. Viele Menschen waren wütend, dass sie auf diese Weise um ihren Willen betrogen werden sollten. Sırrı Sakık, ehemaliger Bürgermeister von Ağrı erklärte in einem Interview, dass Ankara die kurdischen Regionen als Kolonie betrachtet  und den Willen der kurdischen Bevölkerung bestimmen will. Doch Ağrı habe auf diesen Usurptionsversuch eine klare Antwort gegeben. «Trotz allem haben die Kurd*innen immer an einen demokratischen Weg geglaubt. Gerade deshalb ist es wichtig, dass Ankara mit den Kurden Frieden schliesst und den Willen der kurdischen Bevölkerung respektiert.» In den meisten Städten und Provinzen im Südosten der Türkei konnte die DEM die Wahlen gewinnen.

Zurück in Van – der 2. Coup

Gegen 21 Uhr erreichten wir Van. Freude herrschte über den Ausgang der Wahlen in der Stadt. Autocorsos und feiernde Menschen bevölkerten die Strassen. Der Co-Kandidat der DEM, Abdullah Zeydan, wurde mit 55 Prozent der Stimmen gewählt. Vor allem junge Leute waren unterwegs. An verschiedenen Orten trafen wir auch auf Spezialeinheiten der Polizei. Die Stadt roch nach Tränengas.
Am selben Abend gab es eine Pressekonferenz. Die Wahlfeier sollte jedoch erst am Montagnachmittag stattfinden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand etwas von dem bevorstehenden Coup: Ein Gericht entzog Abdullah Zeydan seine politischen Rechte und die Wahlkommission ernannte den AKP-Kandidaten, der etwa 27% der Stimmen erhielt, zum Wahlsieger.
Während die DEM-Partei gerichtlich gegen diesen Putsch vorging, gingen gleichzeitig Tausende Menschen auf die Strasse, um zu verhindern, dass ihre Stimmen erneut gestohlen werden.
Die Wut war gross. Der Staat reagierte mit einem enormen Aufgebot an Polizei. Wasserwerfer schossen in die Seitenstrassen. Entlang der Hauptstrasse wurden zahlreiche Tränengasgranaten abgefeuert. Auch Gummigeschosse wurden eingesetzt. Zumeist Jugendliche antworteten auf die gepanzerten Wasserwerfer mit Steinen. In der Nacht standen, soweit wir sehen konnten, an jeder Kreuzung Busse mit Polizist*innen. Im Laufe des Tages schlossen sich auch andere Städte den Protesten zugunsten von Abdullah Zeydan an. In verschiedenen Provinzen von Istanbul bis Hakkari wurden fast 500 Bürger*innen festgenommen. Als Reaktion auf die wachsende landesweite Empörung bestätigte der Oberste Wahlrat (YSK) am Mittwoch schliesslich die Wahl von Zeydan zum Bürgermeister. – Anschliessend beseitigten die Menschen in Van errichtete Barrikaden und räumten gemeinsam die Stadt auf. Der Co-Vorsitzende der DEM, Tuncer Bakırhan, twitterte dazu: Wir halten unser Versprechen, die Stadt in den kommenden Tagen zum Strahlen zu bringen.

Ausblick

Dort, wo nun gewählte Vertreter*innen der DEM die Ämter übernehmen, steht  eine Aufarbeitung an. Die Zwangsverwaltungen haben meist leere kommunale Kassen hinterlassen. Dennoch besteht viel Hoffnung. Hilfsprojekte, Menschenrechtsarbeit und Projekte für Gleichberechtigung und Ökologie werden voller Elan wieder aufgenommen werden. Viele Menschen sind gewillt, auch unter den schwierigen Bedingungen und ohne finanzielle Ressourcen die nötige Arbeit zu leisten.
Obwohl vieles darauf hindeutet, dass auch Ankara verstanden hat, dass das Zwangsverwaltersystem keine langfristige Strategie sein kann, schwebt es wie ein Damoklesschwert über den gewählten DEM-BürgermeisterInnen.
Die Erfahrungen mit der Regierung in Ankara zeigen, dass es weitere Schritte zur Demokratisierung des Landes braucht. Hier könnte die kemalistische CHP eine Schlüsselrolle einnehmen. Ob sie sich jedoch an die Seite der DEM und der Demokratie stellen wird, bleibt aktuell offen.
Hinzu kommt, dass die Situation an der Grenze zum Nordirak/Südkurdistan und Syrien/Rojava brisant bleibt. Insbesondere die wiederkehrenden militärischen Angriffe auf Rojava produzieren genau jene Flüchtenden, vor denen sich Europa durch den Flüchtlingsdeal abschirmen lässt. Die politischen Entwicklungen der ganzen Region hängen daher auch von der Unterstützung einer internationalen Gemeinschaft ab, die es mit der Demokratie ernst meint.

Franziska Stier, Parteisekretärin