Unrechtsstaat Türkei

Auf Einladung der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV besuchte eine Delegation aus Basel Anfang Oktober die Stadt Van im Südosten des Landes, nahe der iranischen Grenze. Was sie dort zu sehen und zu hören bekam, ist erschreckend und beängstigend. Die Menschenrechtskonvention ist ausser Kraft gesetzt, die Sicherheitskräfte erschiessen und foltern Menschen, grosse Teile der Bevölkerung sind eingeschüchtert, traumatisiert und ihrer Existenzgrundlage beraubt. Zwei Mitglieder der Delegation berichten.

Seit 1995 demonstrieren vor allem Mütter vor dem Galatasaray Gymnasium in Istanbul, um auf ihre verschwundenen Kinder aufmerksam zu machen. Mittlerweile ist die Bewegung weit über die Mütter hinaus gewachsen. Am Samstag, 25. August, der 700. Kundgebung der "Samstagsmütter" solidarisierten sich auch Menschen in Basel. Quelle: beobachternews.de

Kanton Van, im Osten der Türkei. Quelle: CC BY­SA 2.5 Thomas Steiner

Demonstration "Erdogan not welcome" am 13. September in Basel Foto: Franziska Stier

Im Zentrum von Van herrscht geschäftiges Treiben. Moderne Kaufhäuser, Restaurants und Bars prägen das Stadtbild. Westliche Touristen sind allerdings kaum mehr zu sehen, dafür Gäste aus dem Iran und dem Irak, die hier einkaufen oder Ferien machen.

Militärisch besetztes Gebiet

Doch der Schein der Normalität trügt. Im Stadtbild fallen die vielen gepanzerten Fahrzeuge der Polizei und der Armee auf. Die Gebäude der Stadtverwaltung gleichen Festungen, die mit grossen Betonblöcken gegen Anschläge gesichert sind. Entlang der Strassen wimmelt es von türkischen Fahnen. Wer mit dem Auto in der Umgebung der Stadt unterwegs ist, muss unzählige Checkpoints mit schwer bewaffneten Sicherheitskräften passieren. Die kurdischen Teile der Türkei sind militärisch besetztes Gebiet.

Gravierende Menschenrechtsverletzungen

Die Stadt Van war vom Ausnahmezustand nach dem missglückten Putschversuch weniger stark betroffen als etwa Cizre, Sirnak, Diyarbakir oder Hakkari, wo die Armee ganze Wohnquartiere dem Erdboden gleich gemacht hat. In Van gab es auch kaum Strassenkämpfe. Trotzdem wurde die Bevölkerung massiv eingeschüchtert und es kam zu gravierenden Menschenrechts­ verletzungen. Sämtliche gewählte Bürgermeister*innen der prokurdischen Partei HDP wurden entlassen und durch Zwangsverwalter ersetzt. Über 70 Personen wurden in ihren Wohnungen erschossen, obwohl es keinen Grund gab, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Die Häuser waren von Sicherheitskräften umstellt, es handelte sich um eigentliche Hinrichtungen. Erdogan hat ein neues Gesetz erlassen, das den Sicherheitskräften beim Gebrauch von Schusswaffen Straffreiheit garantiert. Eigenartigerweise trat dieses Gesetz just einen Tag vor dem missglückten Putschversuch in Kraft.

Nulltoleranz gegenüber Folter??

Allein in der Stadt Van gibt es neben einigen „normalen“ Haftanstalten drei Hochsicherheitsgefängnisse. Offiziell herrscht laut Präsident Erdogan in der Türkei Nulltoleranz gegenüber Folter. Die Tatsachen sprechen allerdings eine andere Sprache. Laut der Menschenrechtsorganisation IHD gibt es in den Gefängnissen sogenanntes A­Personal, das für Folter zuständig ist. Auch bei Razzien maskierter Sicherheitskräfte kommt es regelmässig zu massiven Übergriffen. Im Zentrum für Folterbetroffene der Menschenrechtsstiftung TIHV in Van, das Anfang Jahr eröffnet worden ist, wird unter anderem ein 4­jähriges Kind behandelt, das zusehen musste, wie seine Eltern in der eigenen Wohnung von Sicherheitsleuten misshandelt, gedemütigt und gefoltert wurden. In letzter Zeit häufen sich Berichte über Folterungen in den eigenen vier Wänden. Dieses Vorgehen hat System. Die Nachbarn sollen die Schreie hören und eingeschüchtert werden. Auch wird so versucht, die betroffenen Familien sozial zu isolieren.

Justiz fest im Griff der AKP

Der Präsident der Anwaltskammer in Van zeichnet ein düsteres Bild der türkischen Justiz. Die Justiz sei bis 2002 kemalistisch (weltlich­nationalistisch) geprägt gewesen. Um den Justizapparat unter seine Kontrolle zu bringen, sei Erdogan strategisch vorgegangen. Zu Beginn seiner Amtszeit habe es der AKP an Kaderleuten gefehlt. Erdogan habe deshalb zunächst auf die Gülen­Bewegung*) gesetzt, die über viele gut ausgebildete Leute verfügte. Nachdem der AKP dann genügend eigene Kader zur Verfügung gestanden hätten, sei der Bruch mit Gülen gekommen. Der missglückte Putschversuch schliesslich habe den Vorwand geliefert, die Gülen­Leute durch AKP­Getreue zu ersetzen. Heute sei der Justizapparat zu über 90% mit AKP­ Getreuen besetzt. Mit Justiz habe das rein gar nichts mehr zu tun.

Nach demselben Muster ist Erdogan auch im Bildungs­, im Gesundheitswesen, bei Armee und Polizei vorgegangen. Die Gülen­Bewegung diente als Wegbereiter, um schliesslich sämtliche gesellschaftliche Schlüsselpositionen mit AKP­Getreuen zu besetzen.

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Polizeigewalt - Chronologie de...

Seit 1995 demonstrieren vor allem Mütter vor dem Galatasaray Gymnasium in Istanbul, um auf ihre verschwundenen Kinder aufmerksam zu machen. Mittlerweile ist die Bewegung weit über die Mütter hinaus gewachsen. Am Samstag, 25. August, der 700. Kundgebung der "Samstagsmütter" solidarisierten sich auch Menschen in Basel. Quelle: beobachternews.de

Auf Einladung der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV besuchte eine Delegation aus Basel Anfang Oktober die Stadt Van im Südosten des Landes, nahe der iranischen Grenze. Was sie dort zu sehen und zu hören bekam, ist erschreckend und beängstigend. Die Menschenrechtskonvention ist ausser Kraft gesetzt, die Sicherheitskräfte erschiessen und foltern Menschen, grosse Teile der Bevölkerung sind eingeschüchtert, traumatisiert und ihrer Existenzgrundlage beraubt. Zwei Mitglieder der Delegation berichten.

Im Zentrum von Van herrscht geschäftiges Treiben. Moderne Kaufhäuser, Restaurants und Bars prägen das Stadtbild. Westliche Touristen sind allerdings kaum mehr zu sehen, dafür Gäste aus dem Iran und dem Irak, die hier einkaufen oder Ferien machen.

Militärisch besetztes Gebiet

Doch der Schein der Normalität trügt. Im Stadtbild fallen die vielen gepanzerten Fahrzeuge der Polizei und der Armee auf. Die Gebäude der Stadtverwaltung gleichen Festungen, die mit grossen Betonblöcken gegen Anschläge gesichert sind. Entlang der Strassen wimmelt es von türkischen Fahnen. Wer mit dem Auto in der Umgebung der Stadt unterwegs ist, muss unzählige Checkpoints mit schwer bewaffneten Sicherheitskräften passieren. Die kurdischen Teile der Türkei sind militärisch besetztes Gebiet.

Gravierende Menschenrechtsverletzungen

Die Stadt Van war vom Ausnahmezustand nach dem missglückten Putschversuch weniger stark betroffen als etwa Cizre, Sirnak, Diyarbakir oder Hakkari, wo die Armee ganze Wohnquartiere dem Erdboden gleich gemacht hat. In Van gab es auch kaum Strassenkämpfe. Trotzdem wurde die Bevölkerung massiv eingeschüchtert und es kam zu gravierenden Menschenrechts­ verletzungen. Sämtliche gewählte Bürgermeister*innen der prokurdischen Partei HDP wurden entlassen und durch Zwangsverwalter ersetzt. Über 70 Personen wurden in ihren Wohnungen erschossen, obwohl es keinen Grund gab, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Die Häuser waren von Sicherheitskräften umstellt, es handelte sich um eigentliche Hinrichtungen. Erdogan hat ein neues Gesetz erlassen, das den Sicherheitskräften beim Gebrauch von Schusswaffen Straffreiheit garantiert. Eigenartigerweise trat dieses Gesetz just einen Tag vor dem missglückten Putschversuch in Kraft.

Nulltoleranz gegenüber Folter??

Allein in der Stadt Van gibt es neben einigen „normalen“ Haftanstalten drei Hochsicherheitsgefängnisse. Offiziell herrscht laut Präsident Erdogan in der Türkei Nulltoleranz gegenüber Folter. Die Tatsachen sprechen allerdings eine andere Sprache. Laut der Menschenrechtsorganisation IHD gibt es in den Gefängnissen sogenanntes A­Personal, das für Folter zuständig ist. Auch bei Razzien maskierter Sicherheitskräfte kommt es regelmässig zu massiven Übergriffen. Im Zentrum für Folterbetroffene der Menschenrechtsstiftung TIHV in Van, das Anfang Jahr eröffnet worden ist, wird unter anderem ein 4­jähriges Kind behandelt, das zusehen musste, wie seine Eltern in der eigenen Wohnung von Sicherheitsleuten misshandelt, gedemütigt und gefoltert wurden. In letzter Zeit häufen sich Berichte über Folterungen in den eigenen vier Wänden. Dieses Vorgehen hat System. Die Nachbarn sollen die Schreie hören und eingeschüchtert werden. Auch wird so versucht, die betroffenen Familien sozial zu isolieren.

Justiz fest im Griff der AKP

Der Präsident der Anwaltskammer in Van zeichnet ein düsteres Bild der türkischen Justiz. Die Justiz sei bis 2002 kemalistisch (weltlich­nationalistisch) geprägt gewesen. Um den Justizapparat unter seine Kontrolle zu bringen, sei Erdogan strategisch vorgegangen. Zu Beginn seiner Amtszeit habe es der AKP an Kaderleuten gefehlt. Erdogan habe deshalb zunächst auf die Gülen­Bewegung*) gesetzt, die über viele gut ausgebildete Leute verfügte. Nachdem der AKP dann genügend eigene Kader zur Verfügung gestanden hätten, sei der Bruch mit Gülen gekommen. Der missglückte Putschversuch schliesslich habe den Vorwand geliefert, die Gülen­Leute durch AKP­Getreue zu ersetzen. Heute sei der Justizapparat zu über 90% mit AKP­ Getreuen besetzt. Mit Justiz habe das rein gar nichts mehr zu tun.

Nach demselben Muster ist Erdogan auch im Bildungs­, im Gesundheitswesen, bei Armee und Polizei vorgegangen. Die Gülen­Bewegung diente als Wegbereiter, um schliesslich sämtliche gesellschaftliche Schlüsselpositionen mit AKP­Getreuen zu besetzen.

Absurde Anschuldigungen

Nach den oben geschilderten Entwicklungen verwundert es nicht, dass die Strafverfolgung sich vor allem auf kurdische Aktivist*innen konzentriert. Der Präsident der Anwaltskammer betonte, dass sämtliche Anschuldigungen gegen ehemalige Bürgermeister*innen rechtlich nicht haltbar seien. Es handle sich um absurde Vorwürfe. In Van hätten beispielsweise engagierte Menschen einen Verein gegründet mit dem Ziel, die soziale Not der Bevölkerung zu lindern. Bekir Kaya – damals Bürgermeister von Van – habe beschlossen, diesen Verein mit Geldern aus dem Sozialfonds der Gemeinde zu unterstützen. Da Kaya selber Anwalt sei, habe er sich zuvor rechtlich abgesichert und den Gouverneur sowie das Innenministerium über die Transaktionen informiert. Beide Instanzen hätten schriftlich ihre Zustimmung gegeben, die entsprechenden Dokumente lägen bei den Akten. Nichtsdestotrotz beschuldigte die Justiz Bekir Kaya, er habe mit öffentlichen Geldern eine terroristische Organisation unterstützt. Bekir Kaya ist zu 9 Jahren Haft verurteilt worden. Weitere Verfahren gegen ihn sind noch hängig. Der Präsident der Anwaltskammer berichtete zudem, dass die Anwält*innen von der Justiz zunehmend als Gefahrenpotenzial betrachtet würden. Zurzeit laufen gegen 48 Mitglieder der Kammer in Van Verfahren.

Massenelend und Verzweiflung

Was wir von unseren Gesprächspartner­ *innen zu hören bekamen, war für uns manchmal an der Grenze des Erträglichen. Die Not und die massiven Menschenrechtsverletzungen haben ein Ausmass angenommen, das wir uns kaum vorstellen können. Ältere Gesprächspartner*innen sagten übereinstimmend, solche Zustände hätten sie noch nie erlebt, es sei schlimmer als zur Zeit der Militärdiktatur in den 80er­ Jahren.

Grosse Teile der Bevölkerung leben unter äusserst prekären Verhältnissen. Ihre Häuser wurden zerstört, Familienangehörige getötet oder verhaftet. Etliche Menschen sind emigriert, tausende wurden entlassen. Unzählige Familien wurden ihrer Existenzgrundlage beraubt. Dazu kommt die Traumatisierung durch Krieg, Gewalt und Folter. Die derzeitige Wirtschaftskrise trägt zusätzlich dazu bei, dass die Not wächst. Organisationen, die Hilfe leisten, wurden verboten und arbeiten jetzt unter erschwerten Bedingungen in der Illegalität. Sie stossen ständig an ihre Grenzen. Zu riesig ist die Aufgabe, zu beschränkt ihre Möglichkeiten. Eine Aktivistin erklärt, es werde immer schwieriger, Leute zu finden, die sich engagieren. Etliche Aktivist*innen seien selber traumatisiert oder eingeschüchtert und nicht mehr in der Lage, sich an den Hilfsaktionen zu beteiligen. Die psychische Belastung sei auch für die Helferinnen und Helfer enorm. Internationale Hilfswerke seien keine vor Ort, die würden sich jetzt auf Rojava konzentrieren, das sei attraktiver.

Politische Auswirkungen

Auch politisch dürfte die geschilderte Situation Auswirkungen haben. Es ist dem türkischen Regime gelungen, die HDP empfindlich zu schwächen. Viele Kaderleute sitzen im Gefängnis oder sind emigriert, etliche Aktivist*innen traumatisiert und paralysiert. Ob die HDP unter diesen Umständen bei den kommenden Gemeindewahlen wieder Mehrheiten erringen kann, ist fraglich, zumal Erdogan bereits angekündigt hat, allfällig gewählte HDP­Bürgermeister*innen umgehend zu entlassen und durch Zwangsverwalter zu ersetzen. Umso wichtiger wäre ein Wahlerfolg der HDP, als Zeichen des ungebrochenen Widerstands der kurdischen Bevölkerung.

Maya Heuschmann und Martin Flückiger

*) Gülen­Bewegung: Anhänger*innen des steinreichen islamischen Predigers Fethullah Gülen, der in den USA lebt. Die Bewegung ist weltweit vor allem im Bildungsbereich aktiv. In seinen ersten beiden Amtsperioden arbeitete Erdogan eng mit der Gülen­Bewegung zusammen, die in der Folge wichtige gesellschaftliche Schlüsselpositionen mit ihren Leuten besetzte. Später kam dann der Bruch Erdogans mit Gülen. Erdogan beschuldigt die Gülen­Bewegung, hinter dem missglückten Putschversuch im Jahr 2016 zu stehen.