Suruç Massaker - eine Prozessbeobachtung

Auf Einladung der Plattform Gerechtigkeit für Suruç besuchten die beiden Autor*innen Franziska Stier und Lukas Romer als internationale Delegation am 21. Mai 2024 die 6. Anhörung im Verfahren zum Suruç-Massaker vom Juli 2015 am Gericht in Şanlıurfa.

Suruç: Ein Anschlag auf die internationale Solidarität

Vor neun Jahren im Sommer 2015 fand in Suruç ein Anschlag statt, bei dem 34 Jugendliche ums Leben kamen und über 70 zum Teil schwer verletzt wurden. In der Schwesterstadt von Kobanê hatten sich damals Jugendliche aus der ganzen Türkei sowie aus dem Ausland eingefunden.

Im Zuge des Syrischen Bürgerkriegs erstarkten auch dschihadistische Gruppen wie der IS. Bald kontrollierten sie weite Teile Syriens und des Iraks. Im September griffen IS-Truppen schliesslich Kobanê (Ain al-Arab), eine Stadt nahe der türkischen Grenze, in der viele Kurd*innen leben und Tausende Binnenflüchtlinge Schutz vor dem Krieg suchten. Kobanê konnte dank der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG (Yekîneyên Parastina Gel) und YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) sowie der Alliierten verteidigt werden, doch die Stadt wurde durch die Angriffe massiv zerstört.
Auf Initiative der Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei (Sosyalist Gençlik Dernekleri Federasnyou; SGDF) hatte sich eine breite internationale Solidaritätsbewegung zur Unterstützung des Wiederaufbaus von Kobanê gebildet. Unter dem Motto «Zusammen verteidigen – zusammen aufbauen» wollten junge Menschen dabei einen Kinderspielplatz sowie eine Bibliothek aufbauen und mit Konzerten und Filmvorführungen den Zusammenhalt der kriegstraumatisierten Bevölkerung stärken. Unterstützt von Fachpersonen sollte auch medizinische und psychologische Hilfe geboten werden. Die Vorbereitungen waren intensiv und dauerten sechs Monate. «Wir wollten nicht nur humanitäre Hilfe leisten, sondern auch Teil der Bewegung sein», erklärt Okan Danacı Co-Präsident der SGDF.
Die Stimmung bei den in Suruç anwesenden jungen Menschen war euphorisch, sie freuten sich darauf, bald die Grenze zu passieren. Ein grosser Teil von ihnen hielt sich an jenem 20. Juli im und um das von der kurdischen Stadtverwaltung betriebene Kulturzentrum Amara auf, das in den Monaten davor bereits den zahlreichen Geflüchteten aus Kobanê als Anlaufstelle diente. Die Jugendlichen haben sich dort versammelt, um die folgenden Tage zu planen, als am Mittag das Massaker verübt wurde. Mit einem Schlag wurden die Freude und die Hoffnungen einer breiten, solidarischen Bewegung ausgelöscht.
Die durch den anfänglichen Verdacht eines Anschlags durch den IS ausgelöste Alarmsituation erschwerte die Rettungsarbeiten vor Ort. Die Gassen um den Platz beim Amara waren voll mit Tränengasnebel. Ambulanzfahrzeuge konnten nicht in die Stadt gelangen, sodass die verletzten Jugendlichen sich selbst überlassen wurden. Schliesslich kamen durch den Anschlag und die erschwerten Umstände 34 Menschen – zumeist Jugendliche – ums Leben und 76 weitere wurden zum Teil schwer verletzt.

Im Rahmen der angestellten Ermittlungen konnte der türkische Staat eine Woche nach dem Anschlag den Selbstmordattentäter identifizieren. Dabei handelte es sich um einen 20-jährigen Türken, von den Behörden als Salafist kurdischer Ethnie charakterisiert. Weitere Ermittlungen des türkischen Staats nach dem Attentat blieben aber aus. Einzig Yakup Sahin wurde als Mittäter des Anschlags in Suruç zur Rechenschaft gezogen und mit Gefängnis bestraft, weil er den Selbstmordattentäter an den Zielort gebracht hatte.

Die Angehörigen der Opfer in Suruç unternahmen in der Folge mit ihren Anwält*innen eigene Anstrengungen, um die Umstände des Attentats aufzuklären und über dessen Drahtzieher und Hinterleute mehr herauszufinden. Sie trugen dabei viele Hinweise zusammen, die sie in bislang fünf Anhörungen im Rahmen der Hauptverhandlung vorbrachten. Die jeweils ändernden Gerichtskörper wiesen die vorgebrachten Beweisanträge jedoch regelmässig ab und verweigerten damit eine weitere Aufklärung des Massakers. Der Parlamentsabgeordnete der Republikanischen Volkspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) Mahmut Tanal legt uns einen Bericht seiner Partei vor und erklärt: «Wenn man unseren Analysen frühzeitig gefolgt wäre, würden die 103 Menschen, die wenige Monate später vom Bruder des Suruç-Attentäters getötet wurden, heute noch leben.» Unter anderem verweist er damit auf die Familie der beiden Attentäter, die sich etwa einen Monat vor dem Anschlag in Suruç an die Polizei wandte und erklärte, dass die beiden Männer dem IS angehörten und ein Anschlag geplant werde. Daraufhin nahm die Polizei den Suruç-Attentäter eine Nacht in Gewahrsam, liess ihn dann jedoch wieder frei. Unklar bleibt jedoch, wer die Freilassung Abdullah Ömer Arslans eingeleitet hat.

Suruç-Prozess: Untätigkeit und Verschleppung

Die Hauptverhandlung wurde mit der fünften Anhörung geschlossen, ohne dass die geforderten Untersuchungen eingeleitet worden wären. Den Angehörigen der getöteten Menschen wurde eine Entschädigung zugesprochen. Diese beläuft sich auf die Hälfte der üblicherweise ausgezahlten Beträge, da – wie die Behörden dazu verlauten lassen – die Opfer mitschuldig an ihrer Situation seien, weil sie von der Gefahr ihrer Unternehmung gewusst hätten. Der türkische Staat, der seine Bürger*innen nicht schützen konnte, schiebt seine Schuld auf die Opfer ab.

Das Ziel des türkischen Staates dürfte es gemäss übereinstimmenden Aussagen verschiedener Beteiligter sein, die Verfahren im Fall Suruç so lange hinauszuzögern, bis die Verjährung eintritt. So finden die Anhörungen dazu auch nur zweimal im Jahr statt. Die Angehörigen und deren Anwält*innen werden die mit der sechsten Anhörung eröffnete Nebenverhandlung dagegen weiter behandeln wie die Hauptverhandlung, weil sie diese nicht als abgeschlossen betrachten.

Anhörung am Gericht in Şanliurfa

Vor dem Verfahrensbeginn trafen wir auf die Anwält:innen und zahlreiche Parteivertreter*innen der Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (Halklarin Esitlik ve Demokrasi Partisi, HEDEP, seit Dezember 2023: DEM Parti) und der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi; CHP). Obschon aufgrund realistischer Einschätzung keine positiven Resultate zu erwarten waren, bekräftigten die Anwesenden die Absicht, ihre Forderung einer ernsthaften Untersuchung der Umstände des Attentats in Suruç zum wiederholten Mal vorzutragen.

So soll das Attentat von Suruç wie die ein knappes halbes Jahr später erfolgten Anschläge in Ankara vom Gericht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit beurteilt werden. Der frühere Ministerpräsident Ahmet Davutoglu soll ungeachtet seiner früheren politischen Stellung als Zeuge angehört werden, da er in einer Stellungnahme aus dem Jahr 2019 ein Mitwissen der Regierung an den Attentaten andeutete. Zwei mutmassliche Mittäter, deren Aufenthaltsorte durch die Anwält*innen eruiert wurden, sollen für die Gerichtsverhandlung in die Türkei ausgeliefert werden. Die nachweisliche Verbindung des verurteilten Yakup Sahin mit dem türkischen Geheimdienst während seiner Gefangenschaft soll untersucht werden. Die Kommunikationsdaten des Imams der örtlichen Moschee, die den Attentätern als Stützpunkt gedient hat, seien ebenso auszuwerten wie die Videoüberwachungsdaten um das Amara-Kulturzentrum fünf Stunden vor dem Anschlag. Schliesslich bestätigte auch die oberste Religionsbehörde Diyanet, dass der Imam Kontakte zum IS pflegt.

Bei der folgenden Verhandlung im Gerichtssaal standen die Interessierten bis in den Korridor vor dem Saal, um sie zu verfolgen, obwohl auch vor dieser Anhörung wie bereits bei den vorangehenden ein grösserer Gerichtssaal gefordert wurde. Das Klima war stickig und heiss. Immer wieder wurde von den Opferanwält*innen Wasser für die Anwesenden organisiert und verteilt.
Auf den erhöhten Richter*innenplätzen sassen der Hauptrichter und zwei Nebenrichterinnen und auf gleicher Ebene direkt neben ihnen auch der Staatsanwalt – eine ungewöhnliche Konstellation, sollte das Gericht doch die Unabhängigkeit auch gegenüber dem Staat, der hier angeklagt ist, wahren. Anstatt dass nun aber der Staatsanwalt selbst den Fragen des Gerichts Rede und Antwort zu stehen hatte, sass dieser während der ganzen Anhörung schweigend auf gleicher erhöhter Position wie die Richter*innen.

Die Anhörung begann mit den Aussagen von neun Überlebenden und Angehörigen von Opfern des Anschlags. Sie beschrieben ihre Gemütslage und stellten ihre Forderungen. Insbesondere das Untätigbleiben des Staates trotz wiederholter Aufforderung zur Untersuchung wird in ihren Voten kritisiert. Den Betroffenen ist das Verhalten des Staats unglaubwürdig: Während die eigene Bevölkerung auf Schritt und Tritt überwacht wird, fehlen für das Datum des Anschlags in Suruç wichtige Stunden von Kameramaterial, während der türkische Geheimdienst ohne Weiteres Leute auf der ganzen Welt lokalisieren und festnehmen lassen kann, ist das im Falle der beiden der Mittäterschaft Verdächtigen seit Jahren nicht möglich, obwohl ihr Aufenthaltsort in Syrien bekannt ist.

Einige Angehörigen betonten auch, dass mit der Aufklärung nicht eine Spaltung der Bevölkerung, sondern deren Einheit angestrebt werde: Nicht die Verurteilung gewisser Personen stehe im Vordergrund, sondern Gerechtigkeit für alle. Aufklärung und Gerechtigkeit im vorliegenden Fall bereiten den Weg für ähnliche Fälle in der Zukunft. Immer wieder fiel darum der Satz: «Gerechtigkeit für Suruç ist Gerechtigkeit für alle.» Für die Angehörigen ist klar, dass der türkische Staat von dem Attentat wusste und nichts unternommen hat. So erklärte Ali Sadet vor Gericht: «Nur eine Person sitzt im Gefängnis, obwohl Hunderte für dieses Massaker und den Tod meiner Tochter Ezgi verantwortlich sind.» Und Murat Budak, der Vater des getöteten Vatan Budak, erklärte im Gespräch mit uns: «Die Mörder sind bekannt, doch wir sind es, die von den Gerichten zu Tätern gemacht werden.» Auch er fordert, dass die systematische Ignoranz gegenüber ihren Aufklärungsbemühungen endet.

Danach folgten die Plädoyers der sechs Anwält*innen. Sie erarbeiteten mit ihren umfangreichen Recherchen einerseits eine Vielzahl an Beweisstücken, andererseits wiesen sie auf Lücken in den bisherigen Untersuchungen hin. Sie bekräftigten die Forderungen der Angehörigen in ihren Anliegen und forderten vom Gericht, den Staat zu verpflichten, seinen eigenen Gesetzen Folge zu leisten, den Spuren der vorgelegten Beweise nachzugehen, die betreffenden Personen vor Gericht zu bringen und alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Stimmung während der Anhörung war ruhig und das Gericht hinterliess einen sachlichen Eindruck. Teilnehmende meldeten uns nach der Verhandlung, dass sie an dieser Anhörung von der Freundlichkeit des Richters überrascht waren; so liess er die einzelnen Zeug*innen und Anwält*innen ausreden und fuhr ihnen auch nicht mit unangemessenen Gegenfragen in die Rede. Dies sei bei anderen Anhörungen nicht immer so abgelaufen. Die Teilnehmenden führten diese konziliantere Stimmung insbesondere auf die Präsenz von parlamentarischen und internationalen Delegationen zurück.

Am Ende wurden auch hier alle Beweisanträge abgelehnt. Der nächste Verhandlungstermin wurde auf den 5. November 2024 angesetzt. Dann werden die Familien, Opfer und Anwält*innen ihre Forderungen erneuern und skandieren: «Gerechtigkeit für Suruç ist Gerechtigkeit für alle.»

Lukas Romer und Franziska Stier

 

Dank

Für die Übersetzungs- und Dolmetschdienste danken wir Onur, Adnan und Senem, die uns überdies in interessanten persönlichen Gesprächen wichtige Informationen und Detailerklärungen zum Fall liefern konnten.