Total solidarisch in der Krise

„Und auf jeden Fall hat jede Gemeinde der andern Beistand auf eigene Kosten zur Abwehr und Vergeltung von böswilligem Angriff und Unrecht eidlich gelobt in Erneuerung des alten, eidlich bekräftigten Bundes, jedoch in der Weise, dass jeder nach seinem Stand seinem Herren geziemend dienen soll.“ So steht es geschrieben im Bundesbrief von 1291. Die alten Eidgenossen haben damit eine urschweizerische Tradition der Solidarität begründet, die gerade heute in der Corona‐Krise wieder zu neuem Leben erwacht.

Ist es nicht gut zu wissen, dass Verkäufer*innen, Putzpersonal, Pflegefachleute, Bauarbeiter etc. wie es ihrem Stand geziemt auch in Krisenzeiten ihrem Herren dienen, während dieser im Homeoffice solidarisch die Fäden zieht? Ist es nicht rührend mitzuerleben, wie unbescholtene Bürger*innen aus Solidarität mit Alten und Gebrechlichen die Polizei anrufen, wenn sie eine Zusammenrottung von mehr als 5 Personen beobachten? Corona sei Dank können wir endlich dem kleinen Faschisten in uns freien Lauf lassen, lustvoll Leute denunzieren, Menschen an den Pranger stellen, zurechtweisen und abstrafen. So macht Solidarität doch erst richtig Spass!

Aufmerksamen Beobachtern ist es denn auch zu verdanken, dass eine BastA!­Grossrätin als Teilnehmerin an einer illegalen Zusammenrottung am 1. Mai identifiziert wurde, obwohl sie vorschriftsgemäss vermummt war. Doch zum Glück waren die Reaktionen von links bis rechts beeindruckend stark. Eine Grossrätin, die so offensichtlich gegen obrigkeitliche Anordnungen verstosse, müsse von ihrem Amt zurücktreten, und eine Partei, die derart unsolidarisches Verhalten gutheisse, habe in unserer Demokratie nichts zu suchen, hiess es unisono. Das lässt hoffen. Denn in Kriegszeiten – und wir sind nun mal gerade in einem Kriegszustand gegen einen zwar unsichtbaren, aber gerade darum umso furchteinflössenderen Feind, der bekanntlich von aussen kam – ist es wichtig, dass das Volk wie ein Mann und eine Frau solidarisch hinter seiner Führung steht.

An der besagten Zusammenrottung sind übrigens auch offen staatsfeindliche Parolen propagiert worden. Man solle die Grenzen öffnen, konnte man da etwa auf Transparenten lesen, und das wäre ja nun wirklich das Letzte! In Kriegszeiten werden die Grenzen dicht gemacht, auch für Flüchtlinge. Das haben wir schon im zweiten Weltkrieg so gehandhabt, und sind damit nicht schlecht gefahren. Die Schweiz als humanitäres Land hat da ja auch eine besondere Verantwortung. Es darf doch nicht sein, dass Flüchtlinge in dieser Krisensituation zu uns kommen, sich hier infizieren, und dann das Virus in alle Welt hinaustragen! Die nicht sesshafte Lebensweise dieses Menschenschlags ist ja sattsam bekannt. Und überhaupt müssen wir uns jetzt zuallererst solidarisch um unsere eigenen Landsleute kümmern. Die Swiss, etwa. Der müssen wir jetzt unter die Arme greifen, damit wir bald wieder abheben und in den armen Ländern des Südens Ferien machen können. Das ist Hilfe vor Ort, das ist gelebte Solidarität!

Vielleicht ist diese Krise ja auch eine Chance: Die Chance, dass wir uns zurückbesinnen auf die Werte der alten Eidgenossen, „dass jeder nach seinem Stand seinem Herren geziemend dienen soll“. Illegal Demonstrierende allerdings haben in dieser Zukunftsvision keinen Platz. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder und jede selber denken und entscheiden würde, was verantwortbar ist und was nicht? Ich kann es Ihnen sagen: direkt ins Chaos. Und Eines müssen Sie wissen: Im Chaos werden die Distanzregeln nicht eingehalten.

Rudi Ratlos